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Tanzbär. In Emanuel Gats Stück „Sunny“ hat ein Eisbär seinen Auftritt.

©  Biennale

Choreografie von Emanuel Gat: Sonnige Systeme

Ab nach Berlin: Emanuel Gat präsentiert seine Choreografie „Sunny“ auf der Tanz-Biennale in Venedig, mit dem er auch zu "Tanz im August" am HAU kommt.

Von Sandra Luzina

Einen tanzenden Eisbären erwartet man nicht unbedingt in Venedig. Doch das ist nicht die einzige Überraschung in Emanuel Gats neuem Stück „Sunny“, das bei der Tanz-Biennale in Venedig uraufgeführt wurde. Zugleich wird es das Berliner Festival „Tanz im August“ eröffnen. Ein Tänzer in Eisbärfell und -Maske schiebt den Bärenbauch vor, die tapsige Kreatur führt mit Grazie zeremoniell anmutende Bewegungen aus.

Der Musiker Awir Leon beobachtet aus einer Öffnung im Hintergrund den surrealen Prolog und übernimmt dann das Ruder. Der Franzose hat acht Jahre lang in Emanuel Gats Company getanzt und parallel eine Karriere als Musiker und Produzent gestartet. „Sunny“ entstand als Zusammenarbeit von Leon und Gat. Das Stück ist beides: Live-Konzert und Tanz-Performance. Am Ende präsentiert Leon eine Gitarren-Version des Soulhits „Sunny“ von Bobby Hebb, doch zunächst kreiert er eine warme Atmosphäre mit sanften Elektrosounds.

Die Tänzer in knappen Trikots und Boxershorts defilieren bis an die Rampe des Teatro alle Tese und schauen herausfordernd ins Publikum. Die Model-Attitüde streifen sie ab, sobald die Bewegung losbricht. Dann tauchen sie ab in ein tiefes Plié oder zeichnen Wellenbewegungen in die Luft. Es ist ein erstes flüchtiges Skizzieren von Bewegungsmöglichkeiten. Die Vielstimmigkeit ist das Sprungbrett, von dem sie sich immer wieder in synchrone Passagen stürzen. „Sunny“ fängt sonnig an und wird dann immer zerklüfteter. Gat verbindet den analytischen Blick auf den Tanz mit einer großen Freiheit und Offenheit. Ebenso wie die Tänzer ständig ihre Kleider wechseln, werden choreografische Strukturen exponiert und wieder verworfen.

"Ich kreiere Tanzstücke aus denselben Gründen wie vor 25 Jahren"

Gat gibt den zehn Tänzern viel Raum für ihren individuellen Ausdruck. Unter den Neuen fällt Annie Hanauer auf, eine Tänzerin mit Armprothese, doch die Beeinträchtigung ist hier kein Thema. Der Akzent liegt auf den mal sinnlichen, mal spröden Duetten, in denen die Möglichkeiten von Nähe ausgehandelt werden. Gen Ende der Aufführung geht bisweilen die Spannung verloren, doch Gat und seine Tänzer arbeiten weiter an ihrem Stück. In Berlin wird man eine andere Version zu sehen bekommen. Sowieso ist jeder Abend anders, dann was man bei Gat sieht, ist Kommunikation in Echtzeit.

Emanuel Gat ist derzeit einer der gefragtesten Choreografen – und einer der avanciertesten. 2007 zog er von Tel Aviv nach Frankreich und hat sich mit seiner Company im südfranzösischen Istres niedergelassen. Wenn man ihn fragt, ob sich seine choreografische Arbeitsweise in Frankreich geändert habe, entgegnet er: „Ich kreiere Tanzstücke aus denselben Gründen wie vor 25 Jahren. Es geht um Zeit und Raum – und den Menschen. Aber die Mittel ändern sich ständig.“ Gat hat die Idee von „sich selbst steuernden Systemen“ in den choreografischen Prozess eingeführt. „Wenn ich früher Choreografien entworfen habe, hatte ich viel Kontrolle. Aber es interessiert mich immer mehr, mit autonomen choreografischen Strukturen zu arbeiten, die nicht von mir kontrolliert werden.“

Programmatisch: Tänze gegen die Schwäche

Gat setzt Vertrauen in die Kreativität und Intelligenz seiner Tänzer. In „Sunny“ gibt es polyphone Momente, in denen die Bewegungen perfekt ineinandergreifen und die Gruppe wie ein lebender Organismus anmutet, was eine hohe Aufmerksamkeit der Tänzer voraussetzt. Sie müssen spüren, wo sich die anderen im Raum positionieren. So verwundert es nicht, dass Gat seine Tanzperformances mit Fußball vergleicht: „Jedes Fußballspiel ist anders. Es gibt klare Regeln, aber innerhalb dieses Rahmens können die Spieler kreativ sein.“

Diesen Teamgeist will Gat auch dem Nachwuchs nahebringen. Mit Studenten des Biennale College erarbeitet er kürzere Stücke. Sie tanzen in Theatern, Museen und auf Plätzen. Die Berliner Choreografin Isabelle Schad studiert mit 13 Tänzern eine Version ihres Gruppenstücks „Collective Jumps“ ein. Auch an Boris Charmatz’ „Levée des conflicts“ können die jungen Talente sich erproben. Virgilio Sieni, dem künstlerischen Leiter, liegt der Nachwuchs besonders am Herzen. Er zeigt zum Festivalausklang auf dem Campo San Maurizio „Danze sulle debollezza“. Tänze gegen die Schwäche – das ist programmatisch zu verstehen.

„Sunny“ im HAU 1 am 12. / 13. 8., 19 Uhr.

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