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Kultur: Cobra, übernehmen Sie!

Meisterwerke der Art Brut: Eine Ausstellung in der Berliner Neuen Nationalgalerie vereinigt die Sammlung Otto van de Loo

Er war immer auf dem Sprung, immer in Bewegung und genauso malte er auch. Als Otto van de Loo dem Dänen Asger Jorn zum ersten Mal in Paris begegnete, traf es ihn wie ein Schlag. Jorns Bilder wirkten wie ein Regenguss an einem heißen Sommerabend: Sie spülten den Staub fort, der sich auf die Diskussion um Gegenständlichkeit oder Abstraktion gelegt hatte und lösten bei dem jungen Galeristen aus München „Schock und Begeisterung“ aus. Denn Jorns Bilder waren beides: abstrakt und gegenständlich, vor allem aber waren sie Ausdruck eines Zustandes innerer Erregung, den es in der Kunst bis dahin in der Form noch nicht gegeben hatte.

Seit diesem Tag gingen sie ihren Weg gemeinsam, der damals 33-jährige van de Loo und der zehn Jahre ältere Asger Jorn, und dieser Weg führte beide zu einem internationalen Ruhm, den jeder für sich allein wohl nicht erlangt hätte. Die Resultate dieser ungewöhnlich symbiotischen Beziehung sind jetzt in der Neuen Nationalgalerie zu sehen. Elf Jahre ist es her, dass van de Loo Berlin ein großzügiges Geschenk machte: Er überreichte den Staatlichen Museen 55 Gemälde von 24 Künstlern, hauptsächlich Angehörige der Gruppen „Cobra“ und „Spur“, und füllte damit eine Lücke der Nationalgalerie.

Da jedoch angemessene Dankbarkeit ein Gefühl ist, mit dem sich so mancher (in diesem Fall: der damalige Kultursenator Ulrich Roloff-Momin) schwer tut, entstanden in der Zeit danach eine Reihe von Irritationen, die man besser vermieden hätte. Als fünf Jahre später eine weitere Schenkung anstand, berücksichtigte der Galerist und Sammler die Hauptstadt nicht mehr, sondern gab das zweite – größere – Konvolut auf Bitte Henri Nannens nach Emden an die dortige Kunsthalle. So ist die aktuelle Ausstellung mit insgesamt etwa 200 Arbeiten von 31 Malern, Zeichnern und Bildhauern einerseits eine Wiedergutmachung anlässlich des 80. Geburtstags des Mäzens, und andererseits auch eine leicht melancholisch stimmende Angelegenheit: Hier kann man besichtigen, was Berlin alles entgangen ist.

Und das ist eine Menge. Maler wie Jean Dubuffet, Karel Appel, Constant (von dem auch einige aufregende Architektur-Entwürfe gezeigt werden) und eben Asger Jorn zählen zu den wichtigsten Künstlern der fünfziger und sechziger Jahre. Ihre respektlose Haltung gegenüber akademischen Debatten, ihre gestisch-intensiven, vor Farben und der Lust am Malen nur so strotzenden Werke wirbelten alles Bekannte auf eine Weise durcheinander, die ihren kongenialen Kollegen H.P. Zimmer, Heimrad Prem, Helmut Sturm und Lothar Fischer im spießigen München der Nachkriegszeit mehrere Gerichtsverfahren wegen Verstöße gegen das „sittliche und religiöse Empfinden“ einbrachte. Zwar sind diese Künstler in der ersten Schenkung an Berlin schon ordentlich vertreten, doch stellt sich bei manchen Stücken, die nach Emden gewandert sind, nichts anderes als ehrliche Wehmut ein. Die Tonfiguren von Lothar Fischer oder die umfangreiche, Beuys in Bestform ebenbürtige Serie von Zeichnungen des zu Unrecht unbekannten Alfred Kremer hätten so gut auch nach Berlin gepasst.

Was an dieser Zusammenschau auf den ersten Blick überrascht, ist, wie frisch die meisten Werke fast fünfzig Jahre nach ihrem Entstehen erscheinen. Es ist sicher kein Zufall, dass junge Künstler wie zum Beispiel der momentan ausgesprochen erfolgreiche André Butzer heute wieder sehr ähnlich malen wie die Protagonisten der Art Brut. Das vermeintlich Dilettantische, Ungezähmte, Grobe und dabei hochgradig Kulinarische an den Bildern von Cobra und Spur erweist sich als Kunstrichtung mit überdurchschnittlich langer Haltbarkeit. Die Werke erinnern an Kinderzeichnungen, stecken voller Ironie, Renitenz und großer Sinnlichkeit – eine Mischung, die einem im Jahr 2003 sehr zeitgenössisch vorkommt.

Das kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesen Sammlungen natürlich um eine subjektive Auswahl handelt. Viel „Herzblut“, so der Generaldirektor der Staatlichen Museen Peter-Klaus Schuster, ist da hinein geflossen, und deshalb auch viel Persönliches und Vorlieben, die nicht jeder teilt. Gerade unter den Malerinnen und Malern, die zur zweiten und dritten Generation der Künstler der Galerie van de Loo gehören, sind einige, die in einer Dauerausstellung der Nationalgalerie und der Kunsthalle in Emden fehl am Platz wären. Gunter Damisch, Hans Matthäus Bachmayer oder Miriam Cahn haben neben Otto van de Loo sicher noch eine große Zahl anderer Bewunderer, aber am Ende sind sie doch nur Epigonen, die hier das Pech haben, dass ihre Vorbilder gleich nebenan hängen. Für die Besucher muss dies allerdings kein Schaden sein, im Gegenteil. Qualität zu finden, Original und Nachahmung unterscheiden zu lernen, ist eine wunderbare Schule des Sehens.

Neue Nationalgalerie, Di-Fr 10–18 Uhr (Do bis 22 Uhr), Sa/So 11–18 Uhr, bis 11. Januar. Katalog 24,90 Euro. Die Ausstellung geht später nach Emden und in München.

Ulrich Clewing

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