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Wahn und Wirklichkeit: Eine Seite aus "Ardalén".

© Egmont

„Ardalén“ von Miguelanxo Prado: Die Geister der Erinnerung

Eine fantasievolle, melancholisch-berührende Geschichte, getragen von starken Charakteren: Mit „Ardalén“ ist dem galizischen Comiczeichner Miguelanxo Prado ein Meisterstück gelungen und eine Graphic Novel im besten Sinne.

Zur Einführung des neuen Labels „Egmont Graphic Novel“ legt die Egmont-Ehapa-Verlagsgruppe die lang erwartete neue Arbeit des aus dem nordspanischen Galizien stammenden Künstlers Miguelanxo Prados vor, der in den rund 25 Jahren seiner Karriere bereits vielfach ausgezeichnet wurde (siehe unten), sich in den letzten Jahren aber eher rar machte. Bekannt vor allem durch seine satirisch-surrealen Comic-Kurzgeschichten der Sammlung „Der tägliche Wahn“ (um 1990; Neuausgabe 2010), weiterer thematisch verbundener Kurzgeschichtenbände („Stratos“, „Berührungen“), einer albenlangen Geschichte („Kreidestriche“) und mehrerer Bildbände („Peter und der Wolf“, „De profundis“) ist diese mit 250 Seiten umfangreicher als alle früheren Veröffentlichungen. Für den Verlag ein veritabler Glücksgriff: Welcher andere Comic könnte aktuell dem – mehr oder weniger definierten - Anspruch der Graphic Novel entsprechen, inhaltlich ambitionierte, abgeschlossene Geschichten in Buchform zu bieten, bei gleichzeitig hoher zeichnerischer Raffinesse?

Alte Freunde, Riesenwellen und die Liebe

Dem aus der Literatur bekannten „unzuverlässigen Erzähler“ gesellt Prado dabei eine erfrischend neue Variante hinzu. Ein wiederkehrendes Motiv in Prados Werk ist auch – etwa in der Erzählung „Kreidestriche“ (1993) oder dem Buch/Animationsfilm „De profundis“ (2007) – die fantasieanregende Kulisse des Meeres. Auch wenn diesmal der Ausgangspunkt ironischerweise ein Bergdorf ist.

Ardalén heißt (gemäß einer dem Buch vorangestellten, scheinbar lexikalischen Information) ein Wind, der die Meeresluft von der amerikanischen Küste ins Landesinnere Europas trägt. Gleichwohl ist es ein zusammengesetztes Wort, das „Luft aus dem Jenseits“ bedeutet.

Nach dem Scheitern einer langjährigen Beziehung zieht es die etwa 35jährige Sabela in ein abgelegenes spanisches Bergdörfchen, wo sie der verlorenen Spur ihres ausgewanderten Großvaters Francisco nachgehen will – in der Hoffnung, dort einen Weggefährten aus seiner Zeit als Seemann ausfindig zu machen. Durch einen Hinweis einiger Einheimischer aus der Dorfkneipe macht sie die Bekanntschaft des greisen Außenseiters Fidel, der ungefähr das Alter Franciscos hat und mehrere Schiffbrüche überlebt haben soll.

Wie kommt der Seebär ins Bergdorf?

Doch die Erinnerungen des freundlichen Alten an lange zurückliegende Ereignisse, alte Freunde, Riesenwellen und die Liebe zu einer schönen Kubanerin sind verworren. Sie lassen Sabela zunehmend an Fidels Verstand zweifeln, erschüttern ihren Glauben daran, dass er ihr weiterhelfen kann. Und wer sind die Geister, die ihn abends heimsuchen?

Traumreise: eine Doppelseite aus dem Buch.
Traumreise: eine Doppelseite aus dem Buch.

© Egmont

Prado entwirft in seinem neuen Werk ein reiches Erzählpanorama, spielt mit Zeitebenen und unterschiedlichen Perspektiven –Sabelas und Fidels, Erinnerungen aus der Kindheit Fidels (und eines gewissen Tonino), Ereignisse auf Kuba und auf See – doch die Frage stellt sich im Laufe der Lektüre immer mehr: Wessen Erinnerungen werden eigentlich erzählt? Wiederholt wird der Erzählfluss durch andere Textsorten unterbrochen, Zeitungsartikel, Karten, Briefe oder Dokumente, die die Authentizität des Erzählten zum Teil zu belegen scheinen - oder ganz in Frage stellen.

Die eigentliche Comicerzählung wird dadurch – manchmal, etwa bei den Magazinbeiträgen, vielleicht ein wenig zu ausführlich - aufgebrochen, ergänzt und hinterfragt. Hinweise auf das Leben des Großvaters in Kuba, von dem Jahrzehnte alte (gezeichnete!) Fotografien existieren, nehmen allmählich Kontur an. Fidels Persönlichkeit tritt immer mehr in den Vordergrund, der sympathische Greis wird zur eigentlichen Hauptfigur, trotzdem bleibt er lange rätselhaft und widersprüchlich: Was macht ein ehemaliger Seebär in einem vom Meer so weit entfernten Bergdorf? Sind seine Visionen von Walen im Wald Ausdrücke schieren Wahns, Alzheimer-Gespinste oder steckt mehr dahinter?

Charakterstudien voller Gefühl und Humor

Die Beziehung zur zwei Generationen jüngeren Sabela wird im Laufe der Geschichte immer eindringlicher. Beide schöpfen durch die Bekanntschaft miteinander neue Hoffnung, das eigene Leben besser meistern zu können. Mit Fidel und Sabela gelingen Prado vielschichtige Charakterstudien voller Gefühl und Humor, die einem im Laufe des Buches immer mehr ans Herz wachsen.

Unzuverlässiger Erzähler: Der greise Außenseiters Fidel (links) und die junge Sabela sind die Hauptfiguren der Erzählung.
Unzuverlässiger Erzähler: Der greise Außenseiters Fidel (links) und die junge Sabela sind die Hauptfiguren der Erzählung.

© Egmont

Eine besondere Rolle kommt den urigen Dorfbewohnern zu, bestehend aus einer herzlichen Wirtin mittleren Alters sowie einer verschworenen Gemeinschaft von Alten, die ein eigenes, schelmisches bis böswilliges Spiel treibt. Prado überzeugt durch eine Weiterentwicklung seines (in „Der tägliche Wahn“ perfektionierten) Stils der satirischen Überzeichnung, ihm gelingen dezent karikierte, aber derart ausdrucksstark gezeichnete Porträts dieser Figuren, dass sie geradezu lebendig werden.

Durch subtile farbliche Nuancen werden aus den fast naturalistischen Zeichnungen traumhaft-surreale Bilder, die einen Übergang zwischen Realität und Vision, Land und Meer, Leben und Tod markieren. Zeichnerisch knüpft Prado in dieser langen Erzählung an seinen bereits in „Kreidestriche“ erprobten Stil der Pastellkreidetechnik an. Jede Seite ist so ausgetüftelt komponiert und farblich angelegt, dass die ganze Erzählung geradezu sinnlich erfahrbar wird.

Trotz mancher vielleicht verzichtbaren Abschweifung durch zusätzliche Texte gelingt Miguelanxo Prado ein erzählerisches wie grafisches Meisterstück. Die Freude des Künstlers daran, seine humorvolle, berührende wie subtil fantastische Geschichte auf verschlungenen Wegen mittels seiner Zeichenkunst zu entfalten, springt auf den Leser über.

Zwischen Realität und Vision: Das Buchcover.
Zwischen Realität und Vision: Das Buchcover.

© Egmont

Miguelanxo Prado, Ardalén, Ehapa Comic Collection/ Egmont Graphic Novel; 256 Seiten, 29,99 Euro

Außerdem erhältlich von M. Prado:
Der alltägliche Wahn – Gesamtausgabe (Ehapa Comic Collection) 192 Seiten, 39,95€
De Profundis (Bildband mit Animationsfilm auf beigelegter DVD) Salleck Publications, 88 S. bzw. 75 min. Film, 29,00 €
Sandman – Ewige Nächte (enthält eine von M. Prado gezeichnete Geschichte) Panini, 164 S., 19.95 €

Die wichtigsten Preise Miguelanxo Prados:
1990 und 1998 Max-und-Moritz-Preis in Erlangen für „Der tägliche Wahn“ (bestes Album) sowie „Peter und der Wolf“ (bester Kindercomic);
1991 und 1994 jeweils Preise für den besten ausländischen Comic in Angouleme: für „Manuel Montano“ und „Kreidestriche“;
2004 Eisner Award in der Kategorie Best Anthology;
2007 beim Filmpreis Goya mit „De Profundis“ in der Kategorie Bester Animationsfilm nominiert
2007 Grand Prix in Barcelona
2013 Salon del Comic in Barcelona: bestes spanisches Album „Ardalén“

Unser Autor Ralph Trommer ist Dipl.-Animator, Autor von Fachartikeln über Comics, Prosatexten und Drehbüchern. Weiter Tagesspiegel-Artikel von ihm unter diesem Link.

 

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