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Geliebte Dampflok: Die Hauptfigur in Aktion.

© Schreiber & Leser

Comic-Album: Altes Eisen

François Schuitens „Atlantic 12“ ist nicht nur eine Liebeserklärung an eine legendäre Dampflok, sondern auch eine Parabel über Fortschritt und Tradition. Zum Album gibt es auch eine Weiche in die erweiterte Realität.

Als ihm die Idee zu „Atlantic 12“ kam, arbeitete François Schuiten gerade als Bühnenbildner für ein Projekt des Eisenbahnmuseums in seiner Heimatstadt Brüssel, wo der Comic-Künstler in der Nähe des Bahnhofs Schaerbeek wohnt. Das in diesem Umfeld auf die Schienen gehobene Schwarz-Weiß-Album ist Schuitens erster Comic, den er auch selbst geschrieben hat. Für Eisenbahnen begeistert Schuiten sich hingegen schon länger. Denn bereits als Kind, so Schuiten, habe er sich immer eine Eisenbahn gewünscht, von seinem Vater aber stets bloß Malkästen geschenkt bekommen. Eisenbahnen haben den 1956 geborenen Belgier trotzdem immer fasziniert, besonders die Art und Weise, wie sie die Menschen und die Welt verändert hätten. Von den Reisen und Abenteuern, für die sie stünden, ganz zu schweigen. Um eine letzte Reise – ein letztes Abenteuer – geht es auch in „Atlantic 12“. Schuiten erzählt darin die Geschichte des alten passionierten Lokführers Van Bel, dessen geliebte Dampflok „12.004“ ausrangiert wird, da sie sich gegen den elektronischen Fortschritt auf den Gleisen und die Vorzüge der Seilbahn nicht mehr durchsetzen kann, während es für Van Bel und seinen Heizer trotz aller Erfahrung und Hingabe obendrein immer schwieriger wird, die Zwölf mit so wenig Kohle wie möglich sicher und schnell durch überflutete Gebiete zu bringen.

Allerdings ist Schuitens Comic nur auf den ersten Blick der verklärte Kommentar eines Dampflokomotiven-Liebhabers und Nostalgikers, der gegen den unaufhaltsamen Fortschritt wettert. Die immer surrealer werdende Story von Van Bel, der im Verlauf seiner anstrengenden Exkursion durch eine geradezu endzeitliche Wildnis zum gefluteten Eisenbahnfriedhof auf eine junge Schrottdiebin und ihren durchtriebenen Hehler trifft, ist viel mehr eine Parabel auf den richtigen Umgang mit Tradition und Kultur. Schuiten möchte vermitteln, dass das trotzige, obsessive Festhalten an Vertrautem und Liebgewonnenem genauso gefährlich sein kann wie das allzu leichtfertige und sorglose Entsorgen des Vergangenen. Es geht also um das bewusste Behüten und Konservieren von kulturellen Gütern, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben und dem Wandel nicht mehr standhalten können.

Gekratzte Wirklichkeit, erweiterte Realität

„Dampflokomotiven sind ein Gottesgeschenk für Schwarz-Weiß-Zeichnungen“, sagt Schuiten, der viel Mühe darauf verwendet hat, die einst schnellste Dampflok der Welt auf den Comicseiten detailgetreu abzubilden.

Traumreisen: Realität und Fantasie verschwimmen im Verlauf der Handlung zunehmend.
Traumreisen: Realität und Fantasie verschwimmen im Verlauf der Handlung zunehmend.

© Schreiber & Leser

Dabei war es gar nicht so leicht, die „Atlantic 12“ aus den 1930ern zu rekonstruieren – von der so dynamisch und geradezu futuristisch designten Zugmaschinen-Serie wurden nur sechs Exemplare gebaut, und einzig die 12.004 hat die Zeit halbwegs überdauert. Zudem gibt es keine vollständigen Baupläne mehr. Bei seinen Figuren, die allesamt auf realen menschlichen Vorbildern basieren, konnte der akribische Schuiten dafür aus den vollen Schöpfen und seine Foto-Referenzen aufwendig mit Bleistift und Tusche zum Leben erwecken. Dazu kommen eine Vielzahl prächtiger Hintergründe in dieser nach und nach immer stärker ins Verträumte abdriftenden Welt – dieser Endzeit für alte Dampfrösser, Alteisen und alte Männer.

Aber nicht allein die Zeichnungen dieser Eisenbahnergeschichte der etwas anderen Art sind etwas Besonderes. Darüber hinaus verknüpft der Comic Print und Online, wie es in letzter Zeit immer mehr Publikation tun. Augmented Reality – Erweiterte Realität – heißt das Zauberwort und ermöglicht mit Hilfe einer Computer- oder Handy-Kamera und einem grafischen Code auf der gedruckten Seite die Interaktion zwischen den Medien. Auf dem Vorsatzblatt des deutschen Hardcover-Albums ist so etwa ein Eisenbahndepot abgebildet – die Weiche für die Weiterfahrt im Internet. Hält man dieses Bild vor eine Webcam oder eine Smartphone-Kamera, eröffnet sich um den Leser herum auf dem Bildschirm eine Welt der Extras und Gimmicks. Unter anderem hat man die Zwölf eigens digital nachgebaut und in Anlehnung an Schuitens Zeichenstil eine Landschaft erstellt, durch welche die dreidimensionale, animierte Lok und ihren Waggons fahren, wobei der zum User gewordene Leser selbst das Tempo bestimmen kann.

Einst die schnellste Dampflok der Welt: Die "12" auf dem Buchcover.
Einst die schnellste Dampflok der Welt: Die "12" auf dem Buchcover.

© Schreiber & Leser

François Schuiten hofft, dass dieses Zusammenwirken von klassischem Comic und moderner Technik ihn „vielleicht ein wenig von dem Verdacht befreit, ein hoffnungslos antiquierter Dampflokliebhaber zu sein.“ Allerdings ist sein „Atlantic 12“ auch ohne die verknüpften technischen Spielereien ein gelungenes Werk. Auf ganz herkömmliche, traditionelle Weise, sozusagen.

François Schuiten: Atlantic 12, Schreiber & Leser, Hardcover-Album, 88 Seiten, 22,80 Euro

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