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Erinnerungslücke: Eine Szene aus dem Buch.

© Carlsen

Graphic Novel: Auf der Suche nach sich selbst

Graphic Novels speziell für Frauen? Das Projekt des Carlsen-Verlags erntete anfangs viel Kritik. Der jüngste Band  „Wie ein leeres Blatt“ ist hingegen ein echter Lichtblick - für Leser jeden Geschlechts.

Der „For-Ladies“-Aufkleber fehlt. Das ist schön, denn auch wenn das hübsche Album von Boulet und Pénélope Bagieu in Carlsens Frauencomicreihe erschienen ist, die die weibliche Leserschaft für diese Kunstform erwärmen soll, wäre es allzu schade, irgendjemanden aus der Adressatengruppe auszuschließen, und habe er auch ein Y-Chromosom.

Nach einer Reihe von Bänden, die sich überproportional mit den Themen Körper, Mode und Schönheit befassen und darin so sexistisch sind wie eine Frauenzeitschrift (mit Ausnahme des Magersuchtsdramas „Von Luft und Liebe“, von dem nur nicht ganz klar ist, warum es von spezifisch weiblichem Interesse sein soll) scheint Carlsen in punkto Zielgruppenoffensivität etwas zurückzurudern. Vorbei auch die Zeit, neue Titel im Rahmen von Ladies’ Nights mit Prosecco und „Facestyling“ zu präsentieren. Und „Wie ein leeres Blatt“ ist auch gestalterisch und inhaltlich ein veritabler Lichtblick.

Die Prämisse des Buches lässt sich knapp auf den Punkt bringen: Eloïse sitzt auf einer Bank und kann sich nicht erinnern, wer sie ist. So beginnt die Suche der jungen Frau nach ihrer Identität, in deren Verlauf sie ihr gesamtes Leben nach Indizien und Anhaltspunkten durchforstet. Doch Einrichtung, Kleider, Düfte, Freunde, Arbeitsplatz und andere Orte liefern keine bemerkenswerte Erinnerung. Was ist passiert – eine Entführung durch Außerirdische? Der Stich am Hals – eine seltene Spinnenart, die einen von innen auffrisst? Und welches Szenario verbirgt sich wohl hinter der Tür, die zu Eloïses Wohnung führen soll, die aber aus ihrem Gedächtnis vollständig verschwunden ist?

Vorangetrieben von der Ausgangsfrage „Wer bin ich?“ haben Boulet und Bagieu eine spannende Detektivgeschichte mit überraschendem Ende vorgelegt, die durch Witz und Tiefe besticht. Dass Identität auch selbstgemacht ist, dass Authentizität Rückgrat erfordert, und dass mode- oder peergruppenbedingte Anpassung im Ergebnis allzu oft in nichtssagender Banalität endet – das sind die wesentlichen Aussagen des Bandes. Ihr altes Ich, fasst Eloïse zusammen, habe „die Bücher gelesen, die ihre Magazine empfohlen haben, die richtigen DVDs gekauft... Je mehr sie versucht hat, eine Identität zu finden, desto mehr wurde sie JEDERMANN. Und eines Tages war sie dann NIEMAND mehr.“ Und so ergreift sie am Ende ihre Chance, ihr Leben und sich selbst, wie ein leeres Blatt eben, neu zu erfinden.

Wer bin ich? Die Hauptfigur auf dem Buchcover.
Wer bin ich? Die Hauptfigur auf dem Buchcover.

© Carlsen

Wie die konformitätskritischen Erkenntnisse Eloïses mit Carlsens kaum ernstzunehmend klischeelastiger Kaufempfehlung für die Frauencomics – als „Lifestyle-Produkte“, mit dem Zusatz, sie „passen in jede Handtasche“ - unter einen Hut gehen, bleibt ein Rätsel. Und auch dem Album selbst kann man vorwerfen, dass die Hauptfigur klassisch großäugig, kleinnasig, überschlank und immer modisch gekleidet ist. Allerdings thematisiert die Geschichte genau diese Problematik und präsentiert sich so als attraktiv gezeichneter Appell zur Eigenständigkeit. Doppelsinnig, philosophisch und ein Highlight in Carlsens Frauencomicexperiment.

Pénélope Bagieu, Boulet: Wie ein leeres Blatt, Carlsen, 208 Seiten, 17,90 Euro

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