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Erzfeinde: Eine Szene aus dem vierten Band.

© Splitter

Krimi-Comic: Aus Sherlocks Schatten getreten

Vier Freunde und kein Meisterdetektiv: Der erste Zyklus der gelungenen Sherlock-Holmes-Hommage „Die Vier von der Baker Street“ endet mit einem furiosen Finale.

1893 dachte Sir Arthur Conan Doyle, sich selbst mit seiner Kurzgeschichte „Das letzte Problem“ ein für allemal von Sherlock Holmes befreit zu haben, nachdem ihm seine populäre Figur immer lästiger geworden war und seinen übrigen schriftstellerischen Ambitionen im Weg stand. In der vermeintlich letzten Sherlock-Holmes-Erzählung rangen der erfolgreiche Ermittler und sein ewiger Widersacher Professor Moriarty vor der dramatischen Kulisse des Schweizer Reichenbachfalls, bis am Ende sowohl der Meisterdetektiv als auch der Napoleon des Verbrechens in den Tod stürzten. Conan Doyle wollte sich als Autor fortan endlich voll und ganz Sujets widmen, die ihm mehr bedeuteten als sein größter literarischer Erfolg. Doch die Schöpfung war längst mächtiger als ihr Schöpfer, und daran konnte auch ihr fiktiver Tod nichts ändern: Der Druck der Öffentlichkeit war so groß, dass Conan Doyle 1902 zunächst den vor „Das letzte Problem“ angesiedelten Roman „Der Hund der Baskervilles“ schrieb und Holmes danach offiziell von den Toten zurückkehren ließ, indem er sein Ableben als vorgetäuscht deklarierte und weitere Storys mit seinem beliebten Detektiv schrieb.

Auf und Ab im viktorianischen London

Im vierten Album von „Die Vier von der Baker Street“ greifen die Szeneristen Jean-Blaise Djian und Olivier Legrand sowie Zeichner David Etien die Geschichte und den Faden auf, als die Nachricht vom Tod des berühmtesten beratenden Detektivs aller Zeiten gerade die Runde in der Hauptstadt des britischen Empires macht und klar die Titelseiten beherrscht. Holmes jugendliche Hilfspolizisten sind von den Meldungen über den Abgang ihres Mentors auf dem Kontinent erschüttert und werden von ihren Emotionen überwältigt. Die Gruppe um den klugen Kopf und Schnüffler Billy, den irischen Heißsporn und Kletterkünstler Black Tom, das als Junge namens Charlie getarnte Mädchen Charlotte und Kater Watson bricht auseinander und trennt sich im Bösen. Fortan müssen sich die Waisenkinder wieder alleine auf den harten Straßen Londons durchschlagen. Zu allem Überfluss bricht auch noch ihr Erzfeind Bloody Percy, den sie hinter Gitter gebracht haben und der ihnen grausame Rache geschworen hat, aus dem Gefängnis aus und macht Jagd auf die Kinder, deren Leben durch Holmes’ Tod ebenso erschüttert worden ist wie ihre Freundschaft...

Schon im ersten Hardcover „Das Geheimnis des blauen Vorhangs“, das im Herbst 2010 auf Deutsch erschienen ist, zeichnete sich ab, dass Djian, Legrand und Etien eine bemerkenswerte Ergänzung zu der umfangreichen Auswahl an Pastiches um und mit Sherlock Holmes und Dr. John Watson geschaffen haben. Diesen Eindruck konnten sie mit den nachfolgenden Bänden „Die Akte Raboutkin“, „Die Nachtigall von Stepney“ und nun besonders „Die Waisen von London“ bestätigen. Am Ende des vierten Albums, das gleichzeitig das Finale des ersten Zyklus darstellt, wirkt das Loblied von Comic-Meister Regis Loisel aus dem Vorwort zum Auftaktband mehr denn je wie ein Versprechen – eines, das die drei Kreativen mit ihren vier Freischärlern auf beeindruckende Art und Weise eingelöst haben.

Ein Herz für junge Helden

Auf Rache aus: Bloody Percy, der Gegenspieler der Hauptfiguren entkommt aus dem Gefängnis.
Auf Rache aus: Bloody Percy, der Gegenspieler der Hauptfiguren entkommt aus dem Gefängnis.

© Splitter

„Die Waisen von London“ kombiniert alle Qualitäten der bisherigen Alben zu einem fulminanten Abschluss des ersten Kapitels mit den spritzigen Abenteuern von Sherlock Holmes’ jungen Helfern, die das gefährliche East End wie ihre Westentasche kennen und weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen sind. Holmes’ überlebensgroßer Schatten ist ungeachtet seines vermeintlichen Todes zwar auch in diesem Band präsent, und Dr. Watson und Inspector Lestrade sind auf der einen oder anderen Seite sogar direkt involviert, während Watsons Frau Mary, Mycroft Holmes und die gute alte Mrs. Hudson ebenfalls kleine Auftritte haben – am Ende dreht sich jedoch alles um die jungen Helden, die viel von ihrem exzentrischen Auftraggeber und noch mehr von den Straßen Londons gelernt haben. Alles dreht sich darum, wie sie auseinander getrieben werden, beinahe im Strudel von Klassen- und Geschlechterkampf sowie dem Sog der Armut und des Verbrechens ertrinken, und wie sie schließlich durch eine Gefahr für ihrer aller Leben wieder zusammengebracht werden. Das ist packend, das ist spannend, das hat Humor und Schwung und Action und vor allem so viel Atmosphäre, dass manche der famos gezeichneten und kolorierten Panels nur so vor Lebendigkeit strotzen.

Nicht zu vergessen, dass einem die Vier von der Baker Street schon lange ans Herz gewachsen sind, auch wenn das jetzt eher ein Statement nach Art des sentimentalen Watson ist, das dessen Freund Mr. Sherlock Holmes zu tiefst verpönen würde. Aber zum Glück glänzt der Meisterdetektiv in diesem Band ja durch Abwesenheit, und das ist ausnahmsweise in keinerlei Hinsicht ein Verlust.

Jean-Blaise Dijan, Olivier Legrand, David Etien: Die vier von der Baker Street, aus dem Französischen von Tanja Krämling, Splitter, vier Bände à 56 Seiten, je 13,80.

Unser Autor Christian Endres ist bekennender Holmesianer. Seine Pastiche-Sammlung „Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes“ erschien 2009 im Atlantis Verlag. Seine Website findet sich hier: www.christianendres.de.

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