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© Jens Harder / Carlsen

Sachcomic „Beta ...civilisations“: Bilderbuch der Menschheit

Seit 18 Jahren zeichnet er die Erdgeschichte. Jetzt ist der Berliner Comicautor Jens Harder in der Gegenwart angekommen.

Ist es möglich, mit zweitausend Bildern eine ganzheitliche Geschichte zu erzählen, die den Blick aus der Hochantike bis ins Computerzeitalter führt? Einen Bogen zu spannen von Jesus von Nazareth bis zu George Floyd, von der Idylle in den letzten unberührten Winkeln der Welt bis hin zu Umweltzerstörung, Klimawandel und atomarer Bedrohung?

Möglich schon, aber nicht ohne neue Ungerechtigkeiten zu produzieren oder alte zu wiederholen. Der Berliner Zeichner Jens Harder war sich dessen bewusst, als er sich an die Arbeit für „Beta II“ (Carlsen, 368 Seiten, 50 Euro), den dritten und vorletzten Band seines Comic-Quartetts über die Erdgeschichte gemacht hat, an dem er seit 2004 arbeitet.

Nachdem er im gefeierten Auftaktband „Alpha directions“ 14 Milliarden Jahre in den Blick nahm und mit „Beta civilisations“ immerhin auch durch 65 Millionen Jahre führte, wirken die zweitausend Jahre von „Beta II“ wie Kleinkram. Aber das täuscht, denn die Masse an Motiven, auf die er zurückgreifen konnte, nahm enorm zu.

Langer Atem. Jens Harder vor Bildern seines fortlaufenden Projekts.
Langer Atem. Jens Harder vor Bildern seines fortlaufenden Projekts.

© Anja Zwei / Carlsen

„Wenn ich bei einem speziellen Thema in der Antike beispielsweise zwischen zehn Motiven auszuwählen hatte, waren es in der frühen Neuzeit vielleicht schon hundert und am Ende des Buches viele Tausend“, erklärt Harder. Da war er als reflektierter Kurator gefragt, um auf die eurozentrierte Geschichtsaufbereitung zu reagieren.

Fortschritt und Esprit, Gewalt und Ideologie

So beginnt das Album mit einer Begräbnisurne aus der zapotekischen Kultur, bevor er noch einmal aus dem All einen Blick auf die Welt wirft, um dann einzutauchen in die Welt im Jahr 1 unserer Zeitrechnung, ins unbesiedelte Neuseeland und die hoch entwickelten Kulturen in China, Athen und Teotihuacan.

Mittelalter: Eine Doppelseite aus dem aktuellen Band von „Beta ... civilisations“.
Mittelalter: Eine Doppelseite aus dem aktuellen Band von „Beta ... civilisations“.

© Jens Harder / Carlsen

Harder wird im Laufe seines Bandes die mächtigen Zivilisationen und Reiche in den verschiedenen Winkeln der Welt präsentieren und zeigen, wie deren kulturelle Leistungen dank zunehmender Mobilität zum Fortschritt der Menschheit beigetragen haben.

Aber es finden nicht nur Fortschritt und Esprit weltweit Verbreitung, sondern auch Krankheiten, Gewalt und Ideologie. Ob Hunnen, Chinesen oder Azteken, Christen, Muslime oder Buddhisten - alle führen blutrünstige Kriege und machen sich die Welt Untertan. Die brutale Unterwerfungs- und Ausbeutungspolitik der europäischen Kolonialisten wird hier besonders beleuchtet.

Von weißen Zwergen zu Fall gebracht

Harder findet für die gewaltvolle Unterwerfung der Welt eindrucksvolle Bilder, etwa wenn er den gefesselten europäischen Seefahrer Gulliver durch einen grimmigen Schwarzen Riesen ersetzt, der von weißen Zwergen zu Fall gebracht und geschunden wird.

An anderer Stelle lässt er die Geschichte der Waffentechnik im atomaren Armageddon von Katsuhiro Otomos „Akira“ gipfeln. Souverän führt er auch durch die Grausamkeiten der jüngeren Vergangenheit und den Abgrund der deutschen Vernichtungswut im 20. Jahrhundert.

Man findet hier aber auch die Geschichte der Kultur, der Wissensaneignung und des Fortschritts. Dabei greift Harder indigene, fernöstliche und polynesische Bildkulturen auf und bedient sich im Bildarchiv der Welt: von Hieronymus Bosch bis zu Man Ray, vom Teppich von Bayeux bis zu Art Spiegelman, von „Modern Times“ bis „I, Robot“. So entsteht im wahrsten Sinne des Wortes ein Bilderbuch der Menschheit.

Neuzeit: Eine weitere Doppelseite aus dem besprochenen Buch.
Neuzeit: Eine weitere Doppelseite aus dem besprochenen Buch.

© Jens Harder / Carlsen

Vieles muss dabei zu kurz kommen oder unter den Tisch fallen. Einiges holt der Berliner aus den Archiven - ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Harder ist kein Historiker wie der Israeli Yuval Noah Harari, der seine kleine Geschichte der Menschheit gemeinsam mit dem franko-belgischen Comic-Duo Daniel Casanave und David Vandermeulen als mehrbändigen Comic herausbringt. Ihre „Sapiens“-Alben kommen verspielter, aber auch textlastiger daher, weil sie mehr erklären, kommentieren, einordnen.

Kulturelle Analphabeten

Harder hingegen setzt auf die Kraft des Bildes. Bei ihm müssen Leser:innen allein erkennen und interpretieren. Dabei will er auch unterhalten, „bei der Bebilderung eines Zusammenhangs immer den Spagat schaffen zwischen einzulösender Erwartungshaltung und der Vermeidung von Langeweile durch erneutes Aufkochen von allzu bekanntem Material.“

Das führt schon mal in die Überforderung. Denn mit der Zunahme der überlieferten Bilderwelten in den vergangenen zweitausend Jahren hat auch die Bedeutung des einzelnen Bildes zugenommen. Je näher sich die Historie dieses fulminanten Bilderbogens dem Wissenshorizont nähert, desto mehr Fragezeichen entstehen beim Blick auf die Bilder.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.
Das Titelbild des besprochenen Bandes.

© Carlsen

Viele Abbildungen haben keinen Bezugspunkt im kolonialen Koordinatensystem in unseren Köpfen, weil sie die Perspektive drehen und Aspekte in den Fokus rücken, die im Westen als wild und archaisch marginalisiert, entwertet, verheimlicht, gewaltsam unterdrückt oder zensiert wurden. Mit Jens Harders großer Erzählung verstehen selbst die gebildetsten Leser:innen, dass sie in vielfacher Hinsicht kulturelle Analphabeten sind.

„We have met the enemy and it is us“, zitiert Harder Walt Kellys Comic-Serienhelden „Pogo“ am Ende. Kein Satz fasst die gewaltvolle Geschichte der Menschheit besser zusammen. Es bleibt abzuwarten, ob das vierte, in die Zukunft gerichtete Album eine optimistischere Perspektive bereithält.

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