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Überschreiter von Text-Bild-Grenzen: Auch die „League of Extraordinary Gentlemen“ ist Thema eines Beitrages in dem Sammelband.

© Promo

Sammelband „Comics an der Grenze“: Theoretische Kanonen, empirische Spatzen

Der Sammelband „Comics an der Grenze“ zeigt das Potenzial der deutschen Comicforschung, weist aber auch große Defizite auf.

Kaum ein Thema ist in den vergangenen beiden Jahren so kontrovers diskutiert worden wie der Schutz von Grenzen, nationalen, europäischen und kulturellen. Doch für die Tagung „Grenzen ziehen, Grenzen überschreiten“ der Deutschen Gesellschaft für Comicforschung, die dem Sammelband „Comics an der Grenze“ zugrunde liegt, gab es keine einzige Einreichung dazu. Auch kein Vorschlag zum offensichtlich relevanten und aktuellen Thema Flucht.

Die Herausgeber sind zu Recht und offen enttäuscht über diese empirische Leerstelle; sie können sie aber leider nicht kompensieren. Hinzu kommt noch eine theoretische Lücke, denn zu wenige Beiträge widmen sich explizit interdisziplinären – also wissenschaftlich Grenzen überschreitenden – Fragen. Hierzu gibt es immerhin einen abschließenden, als „Fußnote“ bezeichneten Beitrag, der nicht Teil der Tagung war, in dem sich der renommierte Comic-Forscher Ole Frahm aus verschiedenen Perspektiven der Frage widmet, ob es denn inzwischen eine genuine Comic-Forschung gibt. Er hält dafür, dass die Wissenschaft die kontinuierlichen Veränderungen der „Sprache des Comics“ immer wieder nachvollziehen muss.

Weniger wäre oft mehr gewesen

Für den Rest der Beiträge ist zu sagen, dass man sich als Leser eine strengere Auswahl gewünscht hätte. Selbstverständlich muss bei Sammelbänden mit einer gewissen Disparität gerechnet werden, was Nähe zum Thema, Qualität und Stil betrifft, aber es gilt eben auch, dass weniger oft mehr ist. Bei zu vielen Beiträgen ist der Zusammenhang zum Thema lediglich zu ahnen bzw. sehr deutlich nur im Fazit nachgeschoben. Nun sind die Herausgeber allesamt junge Nachwuchswissenschaftler, die vor dem Zurückweisen von Kollegen, zumal älteren, aus gutem Grund Respekt haben dürften; aus eigener Erfahrung weiß ich, dass einem hier manchmal der Verlag bzw. das Lektorat zur Hilfe kommen muss.

An der Grenze von Sehen und Sagen: Asterix-Comics werden in dem Sammelband ebenfalls analysiert.

© Promo

Konzentrieren wir uns also auf einige der eher gelungenen Beiträge des Sammelbandes (der in fünf Themenblöcke aufgeteilt ist) mit klarem Bezug zu „Comics an der Grenze“. Im ersten Block (Geschichte – Politik – Geografie) arbeitet Michael Scholz solide heraus, wie sehr die Verbreitung amerikanischer Comics im Europa der Zwischenkriegszeit mit dem Aufbau der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen und der Initiative einzelner Pioniere im Verlags- und Vertriebsgeschäft zu tun hatte. Angela Guttner diskutiert die verschiedenen Funktionen von „Grenzen“ in verschiedenen Comics aus Israel und Palästina. Allerdings sind ihre Kategorien bisweilen fragwürdig: Dass Grenzen eine „Trennungsfunktion“ haben ist nachvollziehbar, aber zum „Subjekt“ können sie doch wohl mangels Bewusstsein nur in Fantasiecomics werden – die hier aber nicht besprochen werden. Merkwürdigerweise sollen sie dann in einer „Kommunikationsfunktion“ wieder Objektstatus haben.

Von Asterix bis Hawkeye

Jakob Kibala diskutiert im zweiten Block (Intermedialität) anschaulich wie in „League of Extraordinary Gentlemen“ gezielte Hinweise in Wort und Bild den Leser zum Detektiv machen und ihn manches Mal zum Zurückblättern zwingen. Unklar bleibt der Zweck der theoretischen Diskussion zu der Frage, ob durch die gezielte Überschreitung von Text-Bild-Grenzen die „implizite Hierarchie von Text und Bild“ in Frage gestellt wird. Spannend ist auch das „Sichtbarmachen der Grenze zwischen Sehen und Sagen“ im Beitrag von Stephan Packard anhand des Beispiels von Sprechblaseninhalten bei Asterix, die nicht vorlesbar sind, weil sie Bildsprache benutzen und daraus ihren Witz beziehen (der Ägypter Tennisplatzis in „Asterix als Legionär“). Auch hier erscheint mir die Diskussion unnötig übertheoretisiert angesichts der wenigen Beispiele. Tatsächlich ist das einzige andere vorgestellte Beispiel m.E. gar kein richtiges; es geht in Hawkeye #19 nämlich schlicht um die simple Verwendung von Gebärdensprache – die muss man lediglich können, um zu verstehen, was „gesagt“ wird.

Leben im Grenzbereich: „Sexile“ von Jaime Cortez ist einer der im Sammelband analysierten Comics.

© Cortez

Im dritten Block „Körper und Gender“ geht es u.a. um die wichtige Diskussion des Vorwurfs an Comics, durch Cartoonisierung Stereotypisierungen Vorschub zu leisten. Comics können Stereotypen aber auch unterlaufen bzw. Konventionen umgehen, argumentieren die Herausgeber, wobei Letzteres m.E. aber eher inhaltlich, nicht comic-spezifisch geschieht. Bei allen theoretischen Diskussionen in diesem Block werden auch hier – wie im Rest des Bandes – die derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Folgen der postmodernen Wahrheitskritik mit keinem Wort erwähnt, so als ob man unbeeindruckt von den Wunschwirklichkeiten und Filter Bubbles der Post-Wahrheitsgesellschaft weiter lustig Dekonstruktion und Identitätspolitik betreiben könne.

Mit theoretischen Kanonen gegen empirische Spatzen

Dies ist z.B. bei Andreas Heimanns Diskussion von Charles Burns‘ „Black Hole“ offenkundig. Differenz und Revolte werden einigermaßen unreflektiert gefeiert, wobei die Interpretation der Metamorphose in „Black Hole“ als Pubertät ja nur Sinn ergibt, wenn es ein Ziel des „Werdens“ gibt, nämlich das Erwachsensein – und damit die Normalität. Merkwürdig erscheint mir auch der Verweis auf den Superheldencomic, der hier als „Vigilantismus“ im Sinne einer systemstabilisierenden Selbstjustiz“ gelesen wird. Stellt Vigilantismus das System und seine Funktionsfähigkeit nicht eher prinzipiell in Frage, ist er nicht fundamentale Staatskritik an einer entscheidenden Stelle, nämlich beim Gewaltmonopol? Insbesondere in den USA ist Vigilantismus in der Populärkultur potentiell immer auch Affirmation einer Gewaltkultur der Selbstjustiz („stand your ground“).

Mit diesem Poster wurde 2014 auf die Tagung aufmerksam gemacht.

© ComFor

Im Beitrag von Kai Linke wird (wie auch in einigen anderen Beiträgen) der sprachliche Respekt vor Differenz und Identität fast ins Absurde getrieben – hier selbst von sprachlicher Inkompetenz: Linke vermeidet explizit die Verwendung von [sic!] bei Fehlern in zitierten Texten und begründet dies ausführlich … [sic!]. Selbstredend gibt es dabei keinerlei Reflektion über die politischen Konsequenzen von Political Correctness und Sprachpolizei: die trotzige Vergiftung des gesellschaftlichen Diskursraums durch Reaktionäre und leicht Beleidigte. Inhaltlich ist Linkes Beitrag allerdings spannend; der besprochene Band „Sexile“ von Jaime Cortez thematisiert ein Leben im Grenzbereich zwischen Ländern/Kulturen/sexuellen Identitäten, wo es weder völliges Ankommen noch völliges Verlassen gibt, was im Comic inhaltlich und grafisch innovativ dargestellt wird . Der Comic macht sein Anliegen explizit, so dass im Grunde kein Theorieapparat nötig ist. Linkes Behauptung, dass „Sexile“ innovativ Grenzen der Kunstform Comic überschreitet („pushing the aesthetic conventions“) trägt m.E. angesichts ihrer bereits bestehenden Vielfalt nicht.

Insgesamt wird im Band zu oft mit theoretischen Kanonen auf empirische Spatzen geschossen. Es gibt einige Male zu wenige Beispiele oder eher unbekannte, randständige (small press) – grundsätzlich ist dies kein Problem, doch müsste dann vor der Interpretation zunächst stärker inhaltlich nacherzählt werden. Die Tendenz zur Vermeidung einer Themenorientierung zugunsten der Pflege eines verästelten Fachjargons (mindestens ein Beitrag hat fast mehr Fußnoten als Text) erklärt möglicherweise, warum es zum drängenden Thema Flucht keine Beiträge gab.

Matthias Harbeck, Linda-Rabea Heyden und Marie Schröer (Hrsg.): Comics an der Grenze. Sub/Versionen von Form und Inhalt, Christian A. Bachmann Verlag, 348 Seiten, 36 Euro.

Unser Autor Dr. Thomas Greven ist Senior Research Fellow am Institut für Internationale Politik, Berlin, und Privatdozent am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin.

Thomas Greven

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