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Bildgewaltig: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Egmont Manga

The Chronicle of The Clueless Age: Ein Tornado als Haustier

Flucht aus dem Alltag: In Usamaru Furuyas und Otsuichis Manga-Meisterwerk "The Chronicle of The Clueless Age" verschwimmen Wahn und Wirklichkeit - ein Großangriff auf die Sinne.

Gerade waren wir uns noch sicher, dass die Werkausgabe von Inio Asano bei Tokyopop das Comic-Ereignis 2013 (nicht nur) im Manga-Sektor war, da fegt bei Egmont Manga (EMA) zum Jahresende noch eine Veröffentlichung um die Ecke und pustet im Handumdrehen den Rest vom deutschen Comic-Markt von meiner persönlichen Jahresbestenliste. "The Chronicle of The Clueless Age" - das ist als Titel schon ein Statement, welches in der Hand weniger fähiger Autoren leicht als hochtrabend hätte belächelt werden dürfen. Doch hier wird es tatsächlich zum Understatement, denn Furuya und Otsuishi geht es um weit mehr als eine Bestandsaufnahme der japanischen Jugend auf der Suche nach einem Platz in ihrer Welt.

Usamaru Furuya kennt man hierzulande als Zeichner und Szenarist von "Der Selbstmordclub" (Schreiber & Leser) sowie des Katastophen-Manga "Tokyo Inferno" (Toykopop), interessanterweise beides Adaptionen: Ersteres entstand nach Shion Sonos Film "Suicide Circle", zweiteres nach der Romanvorlage von Minoru Watanabe. Ein eigenständiges Werk Furuyas hatte es also noch nicht auf den deutschen Markt geschafft. Dabei gilt er als eine der innovativsten Kräfte des modernen Manga und hatte seine erste Veröffentlichung in dem legendären alternativen Manga-Magazin "Garo", in dem unter anderem auch Yoshihiro Tatsumi, Suehiro Maruo und Hideshi Hino zu publizieren pflegten.

Hirotaka Adachi alias Otsuichi ist in Japan eher bekannt als Autor von Romanen und Kurzgeschichten mit Thriller- und Horrorthematik. Zudem schreibt er Szenarios für Manga, oft basierend auf seinen eigenen Prosageschichten. EMA hat davon schon ein paar veröffentlicht, zum Beispiel "Goth", "Kizu" und "Can You Hear Me"?

Flucht vor den Problemen des Alltags

In "The Chronicle of The Clueless Age" setzen die beiden Kultautoren das titelgebende, identitätsbildende (Zeit-)Alter der Ahnungslosigkeit etwas jünger an als Asano im themenverwandten "Solanin". Hier sind es acht Highschool-Schülerinnen und Schüler zwischen 16 und 18 Jahren, denen wir uns in aufeinanderfolgenden Episoden nähern. Sie alle flüchten sich aus den Problemen ihrer Alltagswelt in groteske Traumwelten. Einige führen dort ein eskapistisches Zweitleben, zu dem nur sie selbst Zugang haben. Andere sind Gefangene ihrer eigenen Albtraumvisionen.

So erträgt Fujii die Enge der menschenüberfüllten Großstadt nicht und verwandelt Tokio kurzerhand in ein überflutetes Paradies. Saki kämpft als ewig sechsjähriges Magical Girl gegen einen traumatischen Verlust in ihrer Vergangenheit an. Hirata scheitert an den brutalen Leistungsanforderungen des japanischen Schulsystems, das sich für ihn als Giger'sche Horrormaschinerie darstellt. Asamis Auseinandersetzung mit der eigenen Essstörung wird zu einer infernalen Schlacht gegen ein außerirdisches Süßigkeitenimperium, und der von allen verlachte Taito zieht in seinem Frust zu Hause einen Baby-Tornado groß.

Meisterwerk: Das Buchcover.

© Egmont Manga

So absurd die Ideen auf den ersten Blick erscheinen, so wahrhaftig und ergeifend setzen die beiden Autoren sie in Szene. Der Clou dabei ist, dass in "The Chronicle of The Clueless Age" folgerichtig nicht zwischen Wahn und Wirklichkeit unterschieden wird, denn für die acht Figuren stellt der Wahn den Zugang zu ihrer Lebensrealität dar. Ihre Wahnvorstellungen ernst zu nehmen, bedeutet, sie als Menschen ernst zu nehmen, also genau das, wozu ihr menschliches Umfeld nicht in der Lage ist.  

Furuya lässt dabei keine Gelegenheit aus, sich angesichts der Traumszenarien so richtig auszutoben. "Bildgewaltig" ist ein viel zu bescheidenes Wort, um zu beschreiben, was einen hier visuell erwartet. Man kann nicht umhin, sich angesichts der zeichnerischen Umsetzung völlig überwältigt zu fühlen. Die oft ganzseitigen, surrealen, fantasievoll ausgearbeiteten und hochdetaillierten Traumwelten sind teils wunderschön, teils erschreckend, meist beides zugleich und noch vieles mehr. Ein besonderer Hingucker sind die beeindruckenden, an klassische europäische Kupferstiche angelehnten Kapitelcover und der wunderschön gestaltete Schuber, den Egmont dem Band spendiert hat. "The Chronicle of The Clueless Age" ist von vorn bis hinten ein Großangriff auf die Sinne, auch wenn im Comic ja eigentlich nur einer aktiviert wird.

Die visuelle Überwältigungsstrategie des Manga ist hier aber weit mehr als zeichentechnischer Manierismus und aufgesetzter Eyecandy. Sie hilft dabei, die Wahnvorstellungen greifbar zu machen und zu veranschaulichen, warum es den Figuren so schwer fällt, sich ihnen zu entziehen. Denn so verschieden die Probleme der Jugendlichen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Erfolge, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Wenn alle acht Figuren dann im grandiosen, apokalyptischen Finale im Inneren eines gigantischen Wirbelsturms zusammenfinden und dort über ihre Schicksale Rat halten, bricht letzten Endes doch noch die lebensbejahende Grundhaltung des Manga durch, die Furuya und Otsuichi auch noch einmal in dem ebenso ausführlichen wie lesenswerten Autorengespräch thematisieren, das den Band abschließt.

Der Begriff "Meisterwerk" ist im deutschen Comic-Feuilleton ja ein inflationär überstrapaziertes Gütesiegel. Aber hier hat man fraglos ein solches vor sich. Bleibt nur zu hoffen, dass auch ohne Graphic-Novel-Mogelpackung genug Menschen ihren Weg zu diesem Manga finden, der übrigens in Europa und Nordamerika bisher unveröffentlicht war. Würde dieses - ich sag's noch mal, damit es besser wirkt - Meisterwerk unter dem Radar der Öffentlichkeit hindurchwirbeln, wäre das in der Tat sehr bedauerlich.

Furuya x Otsuichi x Usamaru: The Chronicle of The Clueless Age, Egmont Manga, Schwarz-Weiß, 288 Seiten, 15 Euro

Michel Decomain

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