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Gehen oder bleiben? Jette (Maj-Britt Klenke) ist unentschieden.

© Grandfilm

Coming-of-Age-Film „Das freiwillige Jahr“: Porträt einer unschlüssigen Generation

„Bonnie und Clyde“ statt Freiwilligenjahr: Ulrich Köhler und Henner Winckler erzählen von unsichtbaren Machtspielen zwischen den Generationen.

Schon die erste Sequenz ist vielsagend: Papa Urs (Sebastian Rudolph) trägt seiner Tochter Jette (Maj-Britt Klenke) den Reiserucksack ins Auto, dann geht’s zum Flughafen, denn die 18-Jährige verbringt ein freiwilliges Jahr in Costa Rica, sie hilft dort in einem Krankenhaus. Jette hängt die gesamte Autofahrt am Handy. „Das nervt dich doch selbst“, meint der Vater, der auf dem Weg noch Jettes Kamera aus der Wohnung seines Bruders holen will.

Jette ist die Kamera und vielleicht auch das Krankenhaus nicht so wichtig, aber was soll sie machen? Papa erklärt, Tochter hört weg. Dass „Das freiwillige Jahr“ nie in Costa Rica ankommen wird, ist nur konsequent: Es geht den Regisseuren Ulrich Köhler und Henner Winckler weniger um die Auszeit selbst als um die Frage der Freiwilligkeit. Was will sie machen! Das wird zunehmend zur ernsthaften Frage. In diesem Sinne ist „Das freiwillige Jahr“ ein echter Coming-of-Age-Film.

Die Antwort wird noch mal schwieriger mit dem Auftritt von Jettes Freund Mario (Thomas Schubert), der sie nach einigem Hin und Her schließlich mit seinem VW-Bus zum Flughafen bringt. Ein paar Küsse, ein eher dahingestammeltes „Bleib doch einfach hier“ und eine ungestüme Teenager-Entscheidung später ist das freiwillige Jahr erst mal kein Thema mehr. Mario drückt aufs Gas, als der Vater gerade am Flughafen ankommt – und Urs, der sonst alles im Griff hat, sieht nicht mehr, wie seine Tochter gerade lieber „Bonnie und Clyde“ spielt, als am Gate auf ihn zu warten.

Smartphone statt Welterkundung

Die Spannung in „Das freiwillige Jahr“ rührt nicht von einem klaren Konflikt, sondern von diffusen Abhängigkeiten und unsichtbaren Machtspielen. Auch das kurze „Paar auf der Flucht“-Intermezzo endet nach nur einer Nacht im Wald, als Mario seiner Mutter pflichtschuldig sagt, was los ist. Jette ist auf Mario sauer, das Roadmovie bleibt buchstäblich im Schlamm stecken – und die Handlung in der westfälischen Provinz. Dort ist Urs Dorfarzt, hat eine Affäre mit seiner verheirateten Sprechstundenhilfe und sieht seine Tochter auch deshalb vielleicht lieber in Costa Rica.

Individuelle Motivationen sind in diesem Film immer auch sozial überformt: So klingt nicht zuletzt an, wie eine Generation, für die die Erkundung der Welt selbstverständlicher Teil des Erwachsenwerdens war, nun selber zur Elterngeneration geworden ist. Und sich mit jungen Leuten auseinandersetzen muss, die mit ihren mobilen Endgeräten gar nicht mehr so dringend ans Ende der Welt wollen. Irgendwann muss der Vater den Rucksack seiner Tochter zurück ins Eigenheim schleppen.

Köhler und Winckler, beide Jahrgang 1969, also etwa in Urs’ Alter, haben den Film mit dem WDR realisiert. Das Drehbuch war ursprünglich ausschweifender, es wurde erst spät auf die kurze Erzählzeit von wenigen Tagen eingedampft. Das tut der Geschichte gut, denn gerade im Kleinen gelingt dem Regie-Duo Erstaunliches: Die Dialoge sind präzise, stets aus der Situation geboren, lassen aber doch die Vergangenheit der Figuren aufscheinen – ohne dass der Eindruck entstünde, hier müssten pflichtschuldig alle nötigen Hintergrundinfos geliefert werden.

Koloniale Übergriffigkeit im Kleinen

Henner Winckler hat schon in seinem Film „Lucy“, der 2006 im Forum der Berlinale lief, so behutsam wie genau eine überforderte junge Erwachsene porträtiert. Ulrich Köhler hingegen nutzt mit „Das freiwillige Jahr“ die Möglichkeit, weiter an seinen Bildern von normativer Männlichkeit zu arbeiten, die sein Werk durchziehen. In „Schlafkrankheit“ ging es um einen deutschen Entwicklungshelfer in Kamerun, in „In My Room“ um einen Mann in der Midlife-Crisis, der sich in einer menschenleeren Welt wiederfindet und Siedler spielen kann.

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Die koloniale Übergriffigkeit spielt „Das freiwillige Jahr“ nun im Kleinen durch, und Darsteller Sebastian Rudolph gelingt es, die Charakteristika dieses männlichen Typus’ herauszuschälen, ohne den Vater dabei auf ein Klischee zu reduzieren. Das Übergriffige ist keine Reihe skandalöser Akte, sondern steckt im gesamten Habitus, im gut gemeinten Ratschlag, im selbstverständlichen Wissen, was für alle das Beste ist.

„Du musst dich jetzt halt mal entscheiden, auch wenn du dabei andere verletzt“, sagt Urs irgendwann zu Jette und sieht den verhassten Boyfriend Mario als potenzielles Opfer, nicht etwa sich selbst. Mit fürsorglicher Autorität die Entscheidungen der anderen zu lenken, das ist einfacher, als eigene zu treffen. Jettes jugendliche Unentschlossenheit wirkt da umso ehrlicher. Und im Schlussbild weiß sie zwar noch immer nicht genau, was sie will, aber sie trägt endlich ihren eigenen Rucksack.

Hackesche Höfe, Lichtblick. OmU: Filmrauschpalast, OmenglU: Fsk, Wolf

Till Kadritzke

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