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Wie der Mensch

© DAVIDS/Dominique Ecken

Kultur: CSI Schiller

Durch Klamauk zur Moral: „Verbrecher aus verlorener Ehre“ am Deutschen Theater.

Unterhaltung oder Empathie? Fragt Friedrich Schiller in der Erzählung „Verbrecher aus verlorener Ehre“ aus dem Jahr 1786, die nach einem authentischen Fall die Geschichte des Wilddiebes Christian Wolf erzählt. Wolf gerät immer tiefer ins kriminelle Milieu, fühlt sich von der Gesellschaft gedemütigt und erschießt einen Mann. Empathie!, ruft Schiller. Dafür müsse man den Verbrecher kalt werden lassen wie den Leib des Opfers, Milieu (einfache Wirtsfamilie) und Kindheit (vom Alkoholikervater verachtet) analysieren und die Umstände seiner Taten (gereizt vom Nebenbuhler) rekonstruieren, um durch die „Leichenöffnung seines Lasters“ die „Menschheit zu unterrichten“. Friedrich Schiller, der Krimi-Erfinder, der erste Gerichtspsychologe.

Unterhaltung oder Empathie? Fragt Regisseur Simon Solberg, der schon viel von Schiller inszeniert hat. Während Solberg noch nachdenkt, wuselt die Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters schon mächtig los. Man weiß nicht, wohin man gucken soll, so voll ist der Bühnensetzkasten von Jelena Nagorni. Sie hat ein zweistöckiges Baustellengerüst bauen lassen, das rechts und links nach vorn abknickt und viele Nischen enthält: Garderobe und Tonstudio und altertümliche Dichterklause und in der Mitte einen kleinen OP-Saal mit Operationstisch. Helmut Mooshammer im weißen Arztkittel zerrt gerade hektisch blutrote Stoffwürmer aus einem Stoffoberkörper, während vier weitere sogenannte Wissenschaftler, Reclamheftchen in Händen, Schiller lesen und dabei fast jeden Satz illustrieren, also mit Comicgrimassen oder Hüpfschritten oder angesungenen Liedern ironisieren. Im Schnellverfahren werden Rollen verteilt (Christoph Franken wird zur hässlichen Schiller-Hauptfigur entstellt), Kostüme gewechselt, Gitarren an und wieder abgeschnallt, plötzlich, als es ums Lauschen geht, baumelt ein Ohr aus Pappe an einem Angelfaden. Mooshammer trägt nun die Lumpen der Tätermutter und ruft: „Gestatten: Miss Lungen“.

Schilleraufführung als Schiller- Vor-Führung. Der bittere Moralist im Schafspelz des kichernden Schultheaters auf Speed. Trotzdem gähnt man sich bei so viel auf der Stelle tretender Raserei fast zu Tode. Wäre diese Inszenierung ein Buch, man wollte es schnell in die Ecke pfeffern – wenn da nicht diese sekundenkurzen Videoeinspielungen wären, in denen zwei Männer, die das alles wirklich erlebt haben, von ihrer Kindheit (Missbrauch, Alkoholikereltern), der Tat und den archaischen Gesetzen der Gefängnisgesellschaft berichten. Was sich da alles auf den Gesichtern abzeichnet, was ein Zögern, ein suchender Blick alles erzählt!

Unterhaltung und Empathie, ruft Regisseur Solberg, als hätte er gerade die Theaterweltformel entdeckt. Diese Formel ist etwas naseweis und simpel, aber sie geht auf. Und funktioniert so: Die Dokupassagen und die überdrehte Theaterei laufen unverbunden nebeneinander her, wobei das Ringen nach Worten neben der hemmungslosen Verächtlichmachung der Leidensgeschichte zu geradezu obszönen Kombinationen führt.

Tatsächlich laufen die Erzählweisen aber aufeinander zu. Erst spielt die Handlung plötzlich in der Weimarer Republik – Kathleen Morgeneyer und Elias Arens legen einen Swing aufs Parkett –, um im nächsten Schritt in der Gegenwart der Finanzkrise zu landen. Schließlich liest Helmut Mooshammer den Zeitungsbericht eines grausamen Mordes in der JVA Siegburg vor. Drei Häftlinge quälen einen Mithäftling auf abscheuliche Weise zu Tode. Mooshammer isst dabei einen Apfel, geschockt und unbeteiligt zugleich.

Geschockt. Und unbeteiligt. Auf diesen Widerspruch läuft der Abend hinaus, diesen Widerspruch inszeniert er und lässt ihn stehen. Aus dieser Kluft heraus (oder in sie hinein) treten nun die beiden Häftlinge, die anderthalb Stunden vom Nichtdazugehören, vom Rand der Gesellschaft berichtet haben, leibhaftig zwischen die Schauspieler auf die Bühne.

Er ist logisch, er ist zwangsläufig, er ist gemacht, er ergreift einen mit Wucht, dieser bewegende Moment tiefer Anteilnahme. Auch wenn die abschließende Moral – unser Gefängnisalltag generiert neue Verbrechen, während fortschrittliche Methoden in Skandinavien auf die Selbstachtung der Verurteilten setzen – allzu plakativ gereicht wird.

Wieder am heutigen Sonnabend

und am 30. November

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