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Kultur: Da schimmert, verklärt, die russische Seele - Valery Gergeiews Rimsky-Korsakov-Einspielungen

Eines ist Valery Gergeievs Opernprojekt auf jeden Fall: groß. Mit enzyklopädischem Anspruch türmt der Russenkarajan aus St.

Eines ist Valery Gergeievs Opernprojekt auf jeden Fall: groß. Mit enzyklopädischem Anspruch türmt der Russenkarajan aus St. Petersburg Gesamtaufnahme auf Gesamtaufnahme und hat bereits jetzt, nach wenigen Jahren, Schallplattengeschichte geschrieben. Mehr noch, Gergeievs Plan, alle wichtigen russischen Opern in mustergültig ausgestatteten, vollständigen Einspielungen vorzulegen, hat künftig Chancen, die Spielpläne unserer Stadttheater so zu beeinflussen, wie es die vergleichbaren Editionen, die Serie "Entartete Musik" der Decca und vor 25 Jahren die Philips-Zyklen unbekannter Haydn- und Verdi-Opern getan haben. Denn längst verschafft eine CD einer Opernausgrabung ein weitaus höheren Bekanntheitsgrad, als es eine Serie von zehn Aufführungen an einem mittelgroßen Stadttheater vermag.

Gergeiev und sein Petersburger Marinsky (Ex-Kirov)-Ensemble haben sich dabei die umfangreichste Aufgabe von allen ausgesucht: Wohl kein Teilbereich des Opernrepertoires ist so reich und zugleich diskographisch so wenig erschlossen wie die russische Oper. Als Bühnenwerke haben sich in Westeuropa lediglich Tschaikowskys "Eugen Onegin" und "Pique Dame" sowie Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" etablieren können, die Spitzenwerke von Glinka, Borodin, Prokofjew und Rimsky-Korsakov führen höchstens eine Randexistenz im Bewusstsein der internationalen Operngemeinde, Einspielungen aus den Archiven der russischen Monopolgesellschaft "Melodia" waren nur sporadisch im Westen erhältlich. Während sich Prokofjew in den letzten fünf Jahren allmählich als verkannter Opernkomponist des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat (nicht zuletzt dank Gergeiev, dessen Marinsky-Gastspiel mit der "Verlobung im Kloster" von der amerikanischen Kritik zur Aufführung des Jahres gewählt wurde) , bleibt Rimsky-Korsakov als die zentrale Figur der russischen Oper gegen Ende des letzten Jahrhunderts immer noch zu entdecken. Jetzt legt Gergeiev gleich drei der fünfzehn Rimsky-Opern auf einmal vor und erweitert damit seine mit "Sadko" und dem "Mädchen von Pskov" begonnene Initiative.

Die besten Chancen, sich durchzusetzen, hat von diesem Dreierpack vermutlich die 1907 uraufgeführte "Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh und der Jungfrau Fewronia", für die schon Aufführungen an der Komischen Oper Berlin und bei den Bregenzer Festspielen Interesse geweckt hatten. "Kitesh" ist eine Art russischer "Parsifal"- weit mehr ein Weihestück als ein aktionsgeladenes Musikdrama. Schon das kurze Vorspiel setzt mit dem Waldweben der Geigen und der breit dahinströmenden Choralmelodie das Stück ins Koordinatenkreuz von wagnerscher Orchesterbehandlung und russischer Nationalmystik. Die Figuren, die sich im matten Goldglanz der Streicheraureolen präsentieren, besitzen freilich auch die Starre und die charakterliche Schlichtheit von Ikonenbildern, und sie verlangen vom Hörer kontemplative Versenkung in ihr getragenes Dauer-Arioso. Selbst die beiden Hauptfiguren, die grundgute Jungfrau Fewronia und ihr Gegenspieler, der wahnwitzige, zweifelnde Narr Grischka, sind keine Bühnenmenschen, sondern Verkörperungen der beiden Seiten der russischen Seele in der Tradition eines mittelalterlichen Mysterienspiels. Eine Handlung im engeren Sinne gibt es hier kaum, selbst das Hauptereignis, das Verschwinden der von den Tataren bedrohten Stadt Kitesh ist kein spektakulärer Akt, sondern erklingt wie eine mild schimmernde, chorsinfonische Apotheose der russischen Seele. Es war von daher wohl nicht nur eine Kostenentscheidung, "Kitesh" live aufzuzeichnen - in Gergeievs Mittschnitt von 1994 mit dem damals noch makellosen, kraftvoll strömenden Sopran von Galina Gortschakova an der Spitze des Ensembles ist es gerade die Spontaneität der Aufführung, die die Statik dieses Werkes auffängt.

Paradoxerweise sind die drei Stunden "Kitesh" so packender geraten als die parallel erschienene Studioaufnahme der "Zarenbraut", obwohl das knallige Historiendrama um Liebe, Mord und Eifersucht zur Zeit Iwans des Schrecklichen eigentlich das wirkungsvollere Zugstück sein sollte. Verrät "Kitesh" den Einfluss Wagners, ist die "Zarenbraut" mit dem dramatischen Belcanto-Gestus ihrer Arien und Ensembles ein russischer Nachklang der Opern Donizettis und Verdis. Und doch ist diese russische Kusine der "Lucia Lammermoor" (samt einer Wahnsinnszene für das unschuldige Sopran-Opfer) seltsam anämisch; wo die Emotionen kochen sollten, wimmern sie nur. Gerade die beiden Stars der Aufnahme, Olga Borodina und Dimitri Hvorostovsky, singen in dieser Studio-Aufnahme schlicht zu kultiviert, als dass man ihnen die Gier und hemmungslose Leidenschaft eines lüsternen Bojaren und seiner Sex-Sklavin abnehmen könnte - auch Gergeiev liefert hier nicht die nötigen Adrenalin-Stöße, sondern lediglich den blattgoldglänzenden Schmuckrahmen für ein dekoratives Operngemälde.

Die Planung der Serie mit dem schmucken hellblau-goldenen Kirov-Signet scheint ohnehin großräumig gedacht: Während die wichtigste Rimsky-Oper, der "Goldene Hahn" und der relativ populäre "Zar Saltan" mit dem Wunschkonzerthit "Hummelflug" noch fehlen, erscheint im Gefolge von "Kitesh" und "Zarenbraut" mit dem "Unsterblichen Kaschtschei" ein fast unbekanntes Nebenwerk. Für diejenigen, die sich Rimsky von der Wagner-Seite her nähern (und nicht die etwa 120 Mark für "Kitesh" ausgeben) wollen, ist die einstündige Kurzoper freilich ein guter Einstieg: 1902 uraufgeführt, ist der "Kaschtschei" vielleicht die Rimsky-Oper, die am deutlichsten den Einfluss des Bayreuther Meisters verrät: Das ganze Stück ist aus einer Handvoll prägnanter Leitmotive zusammengestrickt, der böse Zauberer Kaschtschei, der wenig später auch im "Feuervogel" von Rimskys Schüler Strawinsky auftauchen wird, weist ebenso auf seine Vorbilder Alberich und Klingsor wie seine männermordende Tochter auf Wagners Kundry.Rimsky-Korsakov: "Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh" (3 Cds), "Die Zarenbraut" (2 Cds), "Der unsterbliche Kaschtschei"(1 Cd). Kirov-Ensemble, Valeri Gergeiev. Philips.

Jörg Königsdorf

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