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Kultur: Das Altersheim ist keine Perspektive Sibylle Tiedemanns Film „Briefe aus Chicago“

„Schmeiß weg!“, ruft die Stimme aus dem Hintergrund, „schmeiß weg, wenn du es sowieso niemandem zeigen willst!

„Schmeiß weg!“, ruft die Stimme aus dem Hintergrund, „schmeiß weg, wenn du es sowieso niemandem zeigen willst!“ Doch der schwergewichtige, glatzköpfige Mann legt auch dieses einst wegen seiner Lockenpracht ungeliebte Foto wieder in die Schachtel zurück. Zu viel ist, zu viele sind schon für immer verschwunden aus seinem Leben, das ihn und seine Ehefrau Lore nach Chicago verschlagen hat, wo das Paar einen schwäbisch-jüdisch-amerikanischen Haushalt führt: sie pragmatisch zukunftsorientiert, er vor allem den Erinnerungen verhaftet.

Manchmal werden die bescheidensten Filme zu den anrührendsten. So auch diese Doppel-Porträtstudie, mit der die aus Ulm stammende und in Berlin lebende Sibylle Tiedemann an zwei ältere Ex-Ulmer erinnert. Es ist ein leiser Film, die erzählten Schicksale sind laut genug. Lore und Gustav, Juden aus Ulm, konnten im Jahr 1939 noch fliehen – gemeinsam mit Lores Eltern und ermöglicht durch eine amerikanische Bürgschaft, die ausgerechnet in der November-Pogromnacht 1938 im Briefkasten lag.

Ein paar Jahre später kommt Gus als US-Soldat in die zerstörte Heimatstadt zurück – und erst der Anblick der Trümmer verscheucht die Albträume von Verfolgung und Flucht. Die Mitglieder seiner Familie aber sind in den Lagern ermordet worden. Er hatte ihnen zwar noch die Ausreise erkämpft, doch die rettende Botschaft war zu spät in Deutschland angekommen.

Es ist über zwanzig Jahre her, da Sibylle Tiedemann und Ute Badura in dem Dokumentarfilm „Kinderland ist abgebrannt“ die Schicksale einer Ulmer Schulklasse zur Nazizeit erzählt haben. Lore ist eine der damaligen Schulkameradinnen. Gus wiederum, religionskritischer Sohn eines bibelgläubigen Vaters, lernt sie kennen als Freund ihres Bruders.

Seine Leidenschaft gilt dem Fotografieren. Die kunstvoll gestalteten Aufnahmen aus dem Vorkriegs-Ulm und dem Chicago der fünfziger und sechziger Jahre liegen sauber aufgezogen in Kisten im Keller – genau wie die Briefe, die viele Jahre von Chicago nach Deutschland an die „Liebe Sibylle“ gehen.

Gus und Lore besuchen die alte Heimat hin und wieder, eine Rückkehr aber kommt nicht infrage: „I don’t have to go back to be in a Altersheim“, sagt Gus. Und dann folgt schließlich ein Brief von Lore, er sei an einem Herzschlag gestorben. Und sie, die früher immer nur vergessen wollte, kämpft plötzlich mit den Erinnerungen an das, was nicht mehr ist. Silvia Hallensleben

im Lichtblick-Kino

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