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Kultur: Das Ballett der Straße

„Move Berlim“, das Festival des zeitgenössischen brasilianischen Tanzes. Eine Reise in die Zukunft

Fernando holt uns mit der „Titanic“ vom Flughafen ab – einem schrottigen Chevrolet-Kombi, den man selbst in Brasilien nicht abzuschließen braucht. Fernando ist Tanz-Manager und die Titanic sein Dienstwagen. Uberlandia, zwei Flugstunden nordwestlich von Rio de Janeiro: eine zentralbrasilianische Boomtown. 600 000 Einwohner, High-Tech-Industrie, Call-Center, üppige Landwirtschaft. Greifbare Armut. Uberlandia ist einer der Orte auf der Welt, von denen man noch nie etwas gehört hat, wo einen mächtig das Gefühl anspringt, die Welt von morgen zu sehen. In Uberlandia – ein Name mit deutschem Stamm – scheinen sich sämtliche Globalisierungstheorien zu materialisieren.

Das Balé de Rua probt in einem dunklen Lagerraum, zwischen Supermärkten und Autowerkstätten. Die Tür steht offen, es ist stickig. Ein Dutzend schwarze junge Männer und eine Frau in ballettöser Kampfaufstellung. Betonboden. Eine dröhnende Collage aus Rap und religiösen Hymnen, rhythmisch schlagen die Leiber auf, flach und krachend wie Bretter. Sie waren Automechaniker, Bäcker, Fassadenmaler, eine herkömmliche Tanzschule hat hier niemand gesehen. Fernando Narduchi, von Haus aus Psychologe, hat 1992 das Balé de Rua zusammen mit dem Choreografen Marco Antonio Garcia gegründet. Die Wurzeln liegen im Street Dance, den sie von der Straße geholt haben, heraus aus den Fängen der Polizei. Für die waren die schwarzen Tänzer meist nur Drogentypen, Kriminelle.

„Stell dir vor, wie Obst in einer Presse zerquetscht wird“, erklärt Marco Antonio das Stück „O Bagaco“, was so viel wie Trester bedeutet: „Nur dass es kein Obst ist, sondern Menschen“. Brasilianische Erfahrungen. Die Situation der Künstler im fünftgrößten Land der Erde ist ihr Thema. Extreme körperliche Belastungsproben, athletischer Schmerz, komprimiert in einem unglaublichen Ausbruch von Energie. Das Stück des Straßenballetts, in dem Mehlbomben fliegen und Farbeimer geschleudert werden, wird nächste Woche in Berlin zu sehen sein, bei „Move Berlim“, dem Festival des zeitgenössischen brasilianischen Tanzes. Zur Eröffnung am 8. April tanzt Wagner Schwartz, ein Soloperformer, gleichfalls aus Uberlandia. Schwartz, ein sehniger, schlaksiger Typ, der nach dem Willen seines Vaters eine Karriere als Profifußballer hätte einschlagen sollen, präsentiert eine eher intellektuelle Variante lustvoller brasilianischer Selbstkasteiung. Nackt auf der Bühne, mixt er sich exotische Drinks. Ein schmerzverliebter Narziss.

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Wagner: kein ungewöhnlicher Vorname in Brasilien. Wie Beethoven oder Mozart. Wagner Carvalho, der künstlerische Leiter von „Move Berlim“, lebt seit über einem Jahrzehnt in der deutschen Hauptstadt. Vor zwei Jahren hob der 38-Jährige sein Festival aus der Taufe. Ein Coup, ein Überraschungserfolg. Wagner Carvalho will es zu einer festen Einrichtung machen, in Berlin, wo es Festivals an jeder Ecke gibt. „Move Berlim“ (Berlin in portugiesischer Schreibweise) spielt im Hebbel am Ufer, dessen Programm einem permanenten Festival gleicht. „Move Berlim“ aber konzentriert sich auf ein Land, Brasilien, und seine reiche Tanzszene. „ Während der Militärdiktatur“, erzählt Wagner Carvalho, „spielte das Theater eine wichtige politische Rolle. Nun ist der Tanz an seine Stelle getreten.“ Wobei sich die Genres vermischen, wie überall. Europäische Einflüsse sind auch hier virulent.

Sechs Stücke haben Wagner Carvalho und sein künstlerischer Kompagnon Björn Dirk Schlüter auf ausgedehnten Reisen für die zweite Auflage von „Move Berlim“ ausgewählt. Schlüter, ein international erfahrener Dramaturg, leitete vor den HAU-Zeiten das Theater am Halleschen Ufer. Gibt es unter den Gruppen und Solisten eine ästhetische Gemeinsamkeit? Carvalho spricht vom „brasilianischen Körper in seiner Pluralität“. Die brasilianische Gesellschaft ist, so Wagner, von „körperlichen Übertretungen“ geprägt: sexuelle Freizügigkeit, exzessive Kriminalität.

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Zwischenstopp in Rio. Carvalho und Schlüter haben einen Termin in der Präfektur bei Ricardo Macieira, dem Kulturdezernenten der Stadt. Der lässt die Gäste abblitzen. Dass Brasiliens Kulturminister (und Sambakönig) Gilberto Gil und der Berliner Hauptstadtkulturfonds das Festival unterstützen, wischt er weg. Rückschläge beirren Wagner Carvalho nicht. Er spielt bewundernswert seine Doppelrolle des Propheten, der in zwei Ländern, Deutschland und Brasilien, den Tanz zu größerer Geltung bringen will.

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In den Süden. Die Compagnie des Choreografen Alejandro Ahmed – sie war schon 2003 in Berlin dabei – ist in Florianopolis zuhause, ein unwirklicher Zukunftsplatz von ähnlicher Größe wie Uberlandia. Florianopolis liegt am Meer, sechsspurig die Küstenstraßen, die Strandpromenade kilometerweit zugedeckt von Appartementhochhäusern. Die Menschen: weiß und wohlhabend, aufgedonnert, man fühlt sich wie in einer Telenovela. Es gibt kaum eine zweite Stadt mit einer solchen Dichte an Schönheitskliniken wie Florianopolis. Es ist nicht zu übersehen. Alejandro Ahmed hält dagegen: ein Punk.

Samba, Karneval, Fußball, das sind die gängigen Klischees brasilianischer Kultur. Im zeitgenössischen Tanz Brasiliens hat sich ein anderes Stereotyp gebildet: Körper, die auf die Bretter knallen. Auch bei Cena 11 fliegen verrenkte Leiber durch die Luft. Alejandro Ahmed probt in einem Fitnessstudio der Universität das neue Stück „Skinnerbox“, es wird in Berlin uraufgeführt. Der amerikanische Verhaltensforscher B. F. Skinner gilt als Erfinder der Tierversuche. Die Tänzer – darunter drei Gäste aus Berlin – hantieren mit Kokosnüssen und speziell präparierten Schweinehälften. Ein Hund beobachtet das Treiben auf der Bühne. Auch er soll auf die Reise gehen.

Die Luftbrücke Brasilien-Berlin ist ein organisatorisches Kunstwerk für sich.

„Move Berlim“ im Hebbel am Ufer, Eröffnung am 8. 4. mit Wagner Schwartz und Luiz de Abreu. Cia. de Danca Dani Lima (9. bis 11. 4.). Zikzira Teatro Fisico (12. u. 13. April), Balé de Rua (13. u. 14. 4.).Grupo Cena 11 (15. bis 17. 4.). Kartentelefon: 259 004 27 Infos: www.hebbel-am-ufer.de

Rüdiger Schaper

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