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Kultur: Das Ende der Arbeit

Reform ohne Bündnis: Wer löst Europas Beschäftigungskrise? Eine Herausforderung für die Zivilgesellschaft/Von Jeremy Rifkin

Die Europäische Union befindet sich mitten in einer großen Debatte über die Zukunft der Arbeit. Während Politiker, Arbeitgeber und Gewerkschafter darüber streiten, wie man flexible Arbeitsmarktpolitik schafft, die Steuern senkt und die Regeln staatlicher Versorgung und Renten verbessert, bleiben die wahren Gründe der hohen Arbeitslosigkeit von der öffentlichen Debatte unberührt.

Wenn der Schlüssel zur Neuschaffung von Arbeitsplätzen allein eine Frage der Umsetzung solcher Reformen wäre, müssten die USA gerade einen deutlichen Beschäftigungszuwachs erfahren. Denn letztlich hat man dort fast alle Reformen schon durchgeführt, die die Europäische Union gerade umzusetzen versucht. Jedoch erleben die USA, wie bald jede Nationalökonomie der Welt, harte Zeiten. Während die offizielle Arbeitslosenquote in den USA sechs Prozent beträgt, hat sich die reale Arbeitslosenquote einer jüngeren Studie zufolge über die letzten acht Jahre bei etwa 10 Prozent eingependelt – vergleichbar der Quote in der EU. Das mag daran liegen, dass mehr als zwei Millionen enttäuschte Arbeiter einfach aufgaben und deshalb nicht länger in den offiziellen Statistiken geführt wurden: Allein die Gefängnisbelegung stieg von 500 000 im Jahr 1980 auf zwei Millionen heute.

Zudem fanden die meisten Arbeiter der BoomPeriode zwischen 1995 und 2000 nur einen befristeten oder einen Teilzeitjob, oft unterqualifiziert und ohne Sozialleistungen. Viele von ihnen sind jetzt in die Reihen der Arbeitslosen zurückgekehrt. Selbst das so genannte amerikanische ökonomische Wunder der späten 90er Jahre, das eine kurzfristige Blase neuer Beschäftigung warf, entpuppte sich als Illusion. Denn es waren weniger die amerikanischen Managementfähigkeit und die Produktivitätssteigerung, die diese Expansion vorantrieben, als die Ausweitung der privaten Kredite, die es den Amerikanern erlaubte, Geld auszugeben. Der Boom des privaten Konsums bescherte ein paar Jahre Arbeit, um all diese auf Kredit gekauften Güter und Dienstleistungen bereitzustellen. Die Folge: Die Sparquote einer amerikanischen Familie verkehrte sich von acht Prozent in den frühen Neunzigern bis 2000 ins Negative – Amerikaner gaben nun mehr aus, als sie verdienten.

Jetzt, nach dem Platzen der Börsenblase, haben die Amerikaner ihren Konsum eingeschränkt. Und die amerikanische Wirtschaft erfäht ihre schlimmste Beschäftigungskrise seit mehr als zwanzig Jahren. Trotz 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum 2002 und trotz des steilen Anstiegs der Produktivität um 4,7 Prozent – die größte Steigerung seit 1950 – verließen mehr als eine Million Beschäftigte endgültig den Arbeitsmarkt. Sie gaben es schlicht auf nach Arbeit zu suchen und zählen deshalb nicht länger zu den Arbeitslosen. Die alte Logik, dass technologische Fortschritte und Steigerungen der Produktivität zwar alte Jobs vernichten, aber ebenso viele neue schaffen, trifft nicht länger zu. Die „New York Times“ widmete ihren Leitartikel vom 6. Februar der Krise der Arbeit, die den USA wie jedem anderen Land bevorsteht: Die Ursache für die fallenden Beschäftigtenzahlen sei bei den Unternehmen zu suchen, die „sowohl die neuen Technologien nutzen als auch die neuen Strategien, die ihnen von einer Wirtschaft im zunehmend härteren Wettbewerb aufgedrängt werden, nämlich mehr Güter und Dienstleistungen mit weniger Leuten zu produzieren“.

Alle diese schlechten Nachrichten aber gehen an der eigentlichen Frage vorbei: Glaubt die Europäische Union wirklich, dass ihre Wirtschaft einen deutlichen Aufschwung erlebt, wenn sie der US-Führung in Hinsicht auf die Reformen der Arbeit, der Sozialhilfe oder des Handels folgt? Niemand würde behaupten, solche Reformen wären unnötig, jedoch ist immer noch umstritten, wie der unternehmerische Elan am besten zu fördern ist, ohne dafür die soziale Sicherheit zu opfern. Jedoch zeichnet sich in der Weltwirtschaft eine viel tiefere Krise ab.

Der automatische Bauernhof

Die Weltwirtschaft befindet sich in einem grundlegenden Wandel, weil sich die Natur der Arbeit verändert – mit Konsequenzen für die Zukunft der Gesellschaft. Im Industriezeitalter ging die Massenbeschäftigung Hand in Hand mit den Maschinen, die einfache Güter und Dienstleistungen produzierten. Im „Zeitalter des Zugangs“, des „Age of Access“ (Anm. d.Red.: vom Autor geprägter Begriff für eine Zeit, in der alle Bereiche technologisch und kommunikativ verbunden sind), ersetzen intelligente Maschinen in Form von Computersoftware und genetischer wetware zunehmend die Arbeit des Menschen in Landwirtschaft und Industrie. Bauernhöfe, Fabriken und Service-Branchen werden automatisiert. Mehr und mehr körperliche und geistige Arbeit wird im 21. Jahrhundert von denkenden Maschinen übernommen. Die billigsten Arbeiter der Welt werden vermutlich nicht so billig sein können wie die Technologie, die sie ersetzt. Zur Mitte des 21. Jahrhunderts wird die Wirtschaft die technischen Notwendigkeiten und die organisatorische Kapazität besitzen, Güter und einfache Dienste für eine wachsende menschliche Bevölkerung mit einem Bruchteil der jetzt dort Beschäftigten bereitstellen zu können.

Das Industriezeitalter hatte die Sklavenarbeit beendet. Das Zeitalter des „Access“ wird die Massenlohnarbeit beenden. Für die Weltwirtschaft bedeutet das eine Chance und eine Herausforderung. Die Aussicht, den kommenden Generationen die mühevollen langen Stunden an einem Arbeitsplatz zu ersparen, könnte eine zweite Renaissance der Menschheit einleiten – oder aber zu großer sozialer Spaltung und zu Aufständen führen. Die kritische Frage lautet: Was sollen wir tun mit den Millionen junger Menschen, die immer weniger oder gar nicht in der automatisierten Weltwirtschaft gebraucht werden .

Während die Marktwirtschaft nicht in der Lage sein wird, alle die zu absorbieren, die Beschäftigung suchen, gibt es einen anderen Sektor, auf dem die Talente und das Fachwissen der Menschen neu eingesetzt werden können: der dritte Sektor oder die Zivilgesellschaft. Dieser Bereich umfasst alle formellen und informellen Aktivitäten und Ziele, die das kulturelle Leben einer Gesellschaft ausmachen. Hier knüpfen Menschen die Verbindungen einer Gemeinschaft und stellen zugleich soziale Ordnung her.

Schafft soziales Kapital!

Dieser dritte Sektor bildet sich immer stärker aus. Gemeinschaftsaktivitäten prägen bereits heute die ganze Skala von sozialen Diensten bis zur Gesundheitsvorsorge, Bildung und Forschung, den Künsten, Religion und Recht. Ein Projekt der John Hopkins Universität zum Vergleich des Nonprofit-Sektors untersuchte 22 Nationen und fand heraus, dass es sich um eine 1,1 Billionen-Dollar-Industrie mit 19 Millionen Vollzeitbeschäftigten handelt. Die Non-Profit Ausgaben in diesen Ländern beliefen sich auf 4,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Mehrere europäische Staaten rühmen sich einer Beschäftigtenquote im Non-Profit-Sektor, die über der der USA liegt. In den Niederlanden sind es 12,6 Prozent aller bezahlten Arbeit, in Irland 11,5 Prozent, in Belgien 10,5 Prozent, in Großbritannien 6,2 Prozent, in Frankreich und Deutschland jeweils 4,9 Prozent.

Das Beschäftigungswachstum in diesem Bereich war in der ersten Hälfte der 90er Jahre in Europa stärker als in jeder anderen Region der Welt – in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und England betrug es im Durchschnitt 24 Prozent. Diese Expansion war verantwortlich für 40 Prozent des gesamten Beschäftigungswachstums , das sind 3,8 Millionen Jobs.

Es ist interessant zu bemerken, dass in sechs europäischen Ländern, in denen Daten verfügbar waren, „Gebühren für Dienstleistungen und Produkte“ im Non-Profit-Sektor 52 Prozent des Einkommenszuwachs zwischen 1990 und 1995 ausmachten. Zur gleichen Zeit sank der Anteil der Geldmittel, die von der öffentlichen Hand oder gemeinnützigen Organisationen zugeschossen wurden, was den Mythos widerlegt, dass der Non-Profit-Sektor nur von privaten oder öffentlichen Spenden abhängig ist.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen neue Möglichkeiten finden, Millionen junger Menschen für eine Teilnahme im dritten Sektor zu trainieren. Leute zu finanzieren, die sich an der Schaffung sozialen Kapitals in ihren Gemeinden beteiligen, setzt aber die Erhöhung öffentlicher Mittel voraus. Die Regierung kann die Entwicklung des sozialen Kapitals befördern, indem sie steuerliche Anreize schafft, den dritten Sektor und seine „Gebühren für Dienste“ zu belohnen. Dies bedeutet zugleich die Abschaffung von Lohn- und sonstigen Steuern für Non-Profit-Organisationen. Während die Regierung einerseits Steuern verliert, wird sie sie auf der anderen Seite gewinnen. Mehr Menschen in Lohn und Brot bedeuten mehr Einkommen, mehr Konsum, wachsendes persönliches Vermögen und Investitionen sowie mehr beschäftige Menschen, die Steuern zahlen.

In einer globalisierten Welt wird die Zivilgesellschaft wichtiger denn je. Sie ist der Ort, an dem die Menschen wieder Fühlung mit ihren Wurzeln aufnehmen, an dem sie ihre Wahrnehmung für Identität festigen und einen Sinn für Gemeinschaft entwickeln. Für das 22. Jahrhundert ist es möglich, sich intelligente Technologien vorzustellen, die einen Großteil der von Menschen geleisteten Arbeit im kommerziellen Bereich verdrängt haben, während die Menschen selbst ausgebildet und trainiert sind für das Engagement auf dem Feld der Kultur. Bei Arbeit ginge es dann nur darum, Gebrauchswerte zu produzieren. Die Menschen, auf der anderen Seite, sollten befreit werden, innere Werte und Zusammenhalt in der Gemeinschaft zu schaffen. Das bedeutet einen großen Schritt in Richtung Humanität. Von uns sind nun die Vision, der Wille und die Entschlossenheit gefragt, diese nächste große Reise des Menschen zu beginnen.

Aus dem Amerikanischen von Deike Diening.

Jeremy Rifkin ist Präsident der Foundation on Economic Trends; er veröffentlichte unter anderem „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“.

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