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Nationalisten und Rechtsradikale in Warschau, am 11. November 2020, dem Unabhängigkeitstag.

© Grzegorz Banaszak/dpa

Das Erbe des Totalitarismus: Wie Polen von seinen Traumata heimgesucht wird

Vertuschte Taten, unverarbeitete Verbrechen: Ein neuer Band widmet sich der Wiederkehr des Verdrängten in Osteuropa. Die Kolumne Flugblätter.

Von Caroline Fetscher

Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Sachbücher. Nächste Woche: Peter von Becker über literarische Fundstücke.

Angeblich treiben Gespenster ihr Unwesen, wo ein Fluch über einem Ort hängt. Geschichten davon berichten dann stets vom Gewesenen, von der Vergangenheit: Vertuschte ungesühnte Taten geben keine Ruhe. Solchen Legenden liegt eine reale seelische Dynamik zugrunde, jene der Wiederkehr des Verdrängten.

Solange dieses nicht ans Licht geschafft und bearbeitet wurde, rüttelt es nicht nur an den Toren der Gegenwart, sondern treibt sich in ihr herum, eben als Gespenst. Zu erkennen, was bestimmte Gespenster repräsentieren, versucht eine Anthologie mit Blick auf das Polen der Gegenwart. Sie beleuchtet, woher dessen aktuelle, so dramatisch antidemokratische Strömungen stammen.

Was ist in Polen los? Das wollen die Herausgeber von „Wiederkehr des Verdrängten“ wissen. Was geschieht mit und bei den östlichen Nachbarn? (Ewa Kobylinska-Dehe, Pawel Dybel, Ludger M. Hermanns (Hg.): Wiederkehr des Verdrängten? Psychoanalyse und das Erbe der Totalitarismen. Aus dem Polnischen und Englischen von Bernhard Hartmann. Psychosozial-Verlag, Gießen 2020. 331 S. 36,90 €.)

Dabei wird etwa der Krakauer Philosoph Pawel Dybel zum Reiseleiter durch Polens fragmentarische Aufklärung, die Ursachen der „zivilisatorischen und kulturellen Marginalisierung“ des Landes und die Literatur, die sich seit Langem mit der „erdrückenden, anachronistischen und postfeudalen Mentalität“ befasst.

Halbfeudale Abhängigkeitsverhältnisse

Dybel entdeckt mit dem Essay „Die ungewaschenen Seelen“ von Ignacy Witkiewicz (1885 –1939) ein rares Kleinod. Inspiriert von Freuds emanzipatorischem Anspruch betrachtete der Autor soziokulturell die Folgen der hierarchischen „Adelsdemokratie“ Polens.

Und er setzte darauf, das Bewusstsein der Gesellschaft für ihre „halbfeudalen Abhängigkeitsverhältnisse“ zu wecken, um sich autonom zu transformieren, ohne die Orientierung am Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen.

Probeweise lassen sich Erkenntnisse aus Dybels mit ironischer Distanz überschriebenem Beitrag „Wie Stanislaw Ignacy Witkiewicz mithilfe der Psychoanalyse die polnischen Seelen reinigte“ auch auf andere osteuropäische Gesellschaften anwenden, etwa Serbien oder Ungarn.

Intelligente Gespensterjagd

„Ist die Zeit aus den Fugen geraten?“, fragt die Psychoanalytikerin Ewa Kobylinska-Dehe in ihrer Erörterung zu „Psychoanalyse und Decontainment der Welt“. Sie berichtet, wie Geschwindigkeit und Performanzdruck ihre Patienten im Griff haben, die sich mit ihrem Ort auf Erden, mit ihrer sexuellen Identität nicht mehr auskennen, wie diese Überforderung mit regressiver Modernisierung und Entzivilisierung zusammentrifft.

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Auf Polen bezogen sieht sie die Generation des Solidarnosc-Aufstands sich „überflüssig und degradiert“ fühlen und abgleiten in die Sphäre der Ressentiments. Intelligente Gespensterjagd, auch hier.

Der Frage, ob und wie sich die Shoah verarbeiten lässt, widmen sich vier große Aufsätze, darunter „Das Bewusstsein des Bystanders und der Fall Litauen. Über die Banalität der Angst“ des litauischen Lehranalytikers Tomas Kajokas zu der für Genozide zentralen Figur des Nichteingreifenden.

Neue Ethik des Erinnerns

Wo Bystander die „Haftung an eine höhere Instanz delegieren“, zeitigt ihre gleichgültige bis „diffuse Haltung“ unmenschliche, grausame Wirkung, im NS wie im Stalinismus, dessen Spuren sich ebenfalls durch das Buch ziehen.

Kajokas fordert „eine neu belebte Ethik des Erinnerns“, die es Litauern erlaubt, zu erkennen, dass sie und was sie mit Shoah und Antisemitismus zu tun haben, was es zu bearbeiten gilt. Dasselbe erhoffen sich Katarzyna Prot-Klinger und Krzysztof Szwajca für die polnische Gesellschaft zur Überwindung des „martyrologisch-heroischen Paradigmas“, das sich an den eigenen Opfernarrativen festbeißt, so berechtigt deren Inhalte in weiten Teilen sein mögen.

Verdrängung ist kein Mittel gegen Gespenster. Das machen sämtliche Aufsätze dieses reichhaltigen, ausgezeichneten Bandes deutlich. Daher ist er keineswegs ein Polen-Buch, sondern spricht akut und intelligent zu einer Gegenwart, die an den Spuren der Totalitarismen arbeiten muss, um sich ihnen nicht auszuliefern.

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