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Innige Beziehung: Daniel Lamont als Michael und James Norton als sein Daddy (r.) in "Nowhere Special".

© Piffl Medien

Das ergreifende Filmdrama "Nowhere Special": Der Geschmack der Traube

Die Liebe im Angesicht des Todes: Uberto Pasolinis Vater-Sohn-Drama "Nowhere Special" geht einem ans Herz und ist doch ohne jede falsche Sentimentalität.

Einmal bemalt der Junge seine Arme mit Filzstift. Es soll so aussehen wie die Tattoos von Papa. Wenn sie auf der Bank sitzen mit ihren Basecaps, verschränkt Michael die Hände genauso wie Daddy. Ein lieber Junge, sagt die Haushaltshilfe, als John von der Arbeit nach Hause kommt. Er wollte nicht aufessen, bevor Sie nicht da sind. Michael ist vier.

Ein lieber Junge, ein fürsorglicher Vater, freundliche Sozialarbeiterinnen: kein unbedingt spannender Kinostoff. Aber schon die ersten Szenen dieses kleinen, besonderen Films ziehen einen in Bann, eröffnen sie doch die Welt des Sozialen und eine Seelenlandschaft dazu. John ist Fensterputzer, wenn er auf seiner Leiter die Scheiben klarwischt, erblickt er von draußen die Leben der Anderen. Kinderzimmer mit kleinen Bewohnern, das Durcheinander bei einsamen Alten, einfache Leute, reiche Familien, Snobs in den Vororten von Belfast.

John ist bald für immer draußen. Er hat Krebs, lebt nicht mehr lange, man erfährt es wie nebenbei. Deshalb sucht der alleinstehende Vater Adoptiveltern für seinen Sohn. Eine entsprechende Zeitungsannonce brachte den in Großbritannien lebenden Regisseur, Drehbuchautor und Produzenten Uberto Pasolini auf die Idee zu dem Film.

Schon in seiner Tragikomödie „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ hatte sich der Filmemacher (nicht verwandt mit Pier Paolo Pasolini) dem Tod auf ungewöhnliche Weise genähert. Ein kauziger städtischer Angestellter versucht, Trauergäste für die Beerdigung aufzutreiben, wenn ein Verstorbener keine Angehörigen mehr hat.

In „Nowhere Special“ macht sich Pasolini wieder auf die Suche nach Menschlichkeit. Welches neue Zuhause ist das beste für Michael? Michael darf John begleiten, das Sozialamt erlaubt es ausnahmsweise. Die Working-Class-Family hat einen Hasen, aber Michael liebt Hunde. Die wohlhabenden Eheleute mit perfekt ausgestattetem Kinderzimmer nehmen dem Jungen das Plüschtier-Geschenk am Ende des Besuchs wieder weg. Und in der kinderreichen Familie mit Adoptionserfahrung schickt deren Zornesblitze Richtung Michael.

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Winzige Gesten, Blickwechsel, wortloses Einverständnis, eingefangen von Pasolinis Handkamera: Selten hat man im Kino eine derart innige Vater-Sohn-Beziehung gesehen. Das Drücken des Ampelknopfs am Zebrastreifen will geübt sein, im Supermarkt muss es ein ganz bestimmtes Kakaopulver sein, in der Badewanne muss Michaels Plastik-Lkw gleich mit eingeseift werden und beim Traubenessen werden die Kerne herausgepult. Wenn der Vater auf dem Sofa einschläft, legt Michael eine Decke über ihn und sich selber dazu. Bei all dem verzichtet der Film auf einen gefühlsverstärkenden Soundtrack.

Der Vater stirbt bald, wie erklärt man einem Vierjährigen den Tod?

Wie erklärt man einem kleinen Jungen das Sterben? Das „When Dinos Die“- Buch lässt John beim Vorlesen zur Nacht lieber beiseite. Erst als sie im Park einen toten Käfer entdecken, als die beiden den Geburtstagskuchen für John mit Kerzen bestücken, den letzten Kuchen an seinem letzten Geburtstag, sucht der Vater vorsichtig nach Worten.

[In Berlin in den Kinos Delphi Lux, Friedrichshain, Sputnik, Toni. Omu: fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe, Il Kino, Passage, Toni)

John wird von James Norton gespielt, eigentlich ein viriler Typus. Der 36-Jährige, in England ein Serien-Star, war als einer der Bond-Kandidaten für Daniel Craigs Nachfolge gehandelt worden. Hier nimmt er sich vollständig zurück – weshalb „Nowhere Special“ nicht nur von der frappierenden Natürlichkeit Daniel Lamonts als Michael lebt, sondern auch von Nortons stiller Intensität. Auf ganz eigene Weise setzen Pasolini und Norton die Tradition des New British Cinema fort, man denkt an Figuren von Ken Loach und Mike Leigh oder aus Arbeiter-Komödien wie „Ganz oder gar nicht“.

Am Ende sagt John seinem Sohn, dass er noch da sein wird, wenn er verschwunden ist, im Geschmack der Trauben zum Beispiel. Er packt eine Memory Box, schreibt Briefe für später. Einer ist für den Tag, wenn Michael seinen Führerschein macht. Die Liebe im Angesicht des Todes: Wie es dem Film gelingt, herzergreifend und doch unsentimental davon zu erzählen, das ist fast schon ein kleines Wunder.

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