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Kultur: Das Essener Museum Folkwang zeigt Bilder der Oberschicht aus Neuengland

Zehn Jahre alt mögen sie sein, vielleicht auch elf oder zwölf, und sehen schon aus, als gehörte ihnen das Land. Mindestens aber der Vorstandssessel einer großen Bank.

Zehn Jahre alt mögen sie sein, vielleicht auch elf oder zwölf, und sehen schon aus, als gehörte ihnen das Land. Mindestens aber der Vorstandssessel einer großen Bank. Sie tragen dunkle Zweireiher, die Haare sind einheitlich gescheitelt, und das propere Gesicht überzieht jenes Lächeln, welches ihre Väter nach einem zufriedenen Blick auf die Umsatzzahlen des Hauses tragen: kühl, selbstbewusst, distinguiert. Sie sind nicht einfach "The Boys", wie der Titel dieser Fotografie von Tina Barney besagt, sie sind Repräsentanten ihrer Schicht.

"The Boys" ist eines von 26 Bildern, die derzeit die Fotografische Sammlung des Essener Museums Folkwang zeigt. Erstmalig sind damit die Werke von Tina Barney diesseits des Ozeans zu sehen, fern ihrer Heimat, den Neuengland-Staaten an Amerikas Ostküste. Die Menschen dort hat Barney zum Mittelpunkt ihres Schaffens gemacht. Ihre großformatigen Bilder lüften einen Vorhang, hinter dem uns üppig ausgestattete Salons, barock gerahmte Wandgemälde und teure Kleidung erwarten. Wir sehen Jill und Polly im Bad, lernen Diane und Tim und Mark kennen, die sich in schweren Sesseln flätzen, und sind so nah dabei, dass wir zu hören glauben, was sich Sheila und Moya gerade zu erzählen haben, die Illustrierte aufgeschlagen auf den Knien.

Aus Heimweh, sagt Barney, habe sie angefangen zu fotografieren, als sie mit ihrem Mann Anfang der 70er Jahre nach Sun Valley im Westen zog. Kunstgeschichte hatte sie studiert und in der Fotoabteilung des Museum of Modern Art volontiert. In Sun Valley, mittlerweile Mutter zweier Söhne, besuchte sie die Fotokurse des Center for the Arts and Humanities. Und wann immer sie ihre "Urlaubsbilder" zeigte, war das Interesse groß. Barneys Welt ist die einer nach außen intakten Elite, die der weißen, angelsächsisch-protestantischen Oberschicht. Barney berichtet, sie habe den Chauffeur, der sie morgens im Cadillac zur Schule fuhr, gebeten, sie zwei Straßenecken vor dem Tor herauszulassen. Die Distanz, die sich hier ankündigt, tritt in ihren Fotografien offen zu Tage. Verstärkt wird dies durch Barneys Stil. Ihre Bilder sind groß, so groß, dass man meint, Teil der Szenerie zu werden. Brillant sind sie und detailreich; jede unvorteilhafte Falte im Gesicht der alten Dame, die im Zentrum von "The entrance hall" posiert, springt dem Betrachter entgegen.

Man mag Ironie wittern - ohne ihrer jedoch so recht habhaft zu werden. Barney selbst sieht den Anlass freilich auch nicht in einer selbstkritisch motivierten Milieustudie. Sie wollte einfach jenen Riten nachspüren, die sie und ihre Mitmenschen an der Ostküste dazu bringen, sich auf eben jene typische Weise einzurichten, die Häuser zu streichen und sich zu kleiden, dass es sogar zur Tapete passt. Ganz befriedigt dieser Hinweis nicht. Fast plakativ mischen sich in ihren Bildern Pomp und schlechter Geschmack, Geborgenheit und Arroganz, Geschäftigkeit und Langeweile. Während es für Barney aber Freunde und Verwandte sind, die vor ihrer Kamera agieren, sind dies insbesondere für den europäische Betrachter die Exemplare einer fernen Welt, zu der er nie dazugehören wird. So liest er Barneys Bilder stets analog beispielsweise zu den Underdog-Porträts von Nan Goldin als Abbildungen einer speziellen Klasse.

Barney aber ermöglicht genau diese Dazugehörigkeit, trotz großer Kamera und enormem Beleuchtungsaufwand Bilder zu schaffen, deren Spontaneität an beste journalistische Schnappschüsse heranreicht. Die tiefere Tragik muss für sie darin liegen, dass, je näher sie ihren Objekten kommt und hinter die Fassaden und in die Räume vordringt, die ihr wie das Wohnzimmer der Eltern lange verschlossen waren, desto offener auch das Krisenhafte zu Tage tritt. Am Anfang ihrer Bilder standen Heimweh und der Wunsch, diese verlorene Welt festzuhalten. Als eine, die nun aus der Distanz blickt, enthüllt sie, dass auch Riten und Formen keine Kontinuität garantieren können. Mehrere der vermeintlichen Musterfamilien, die wir auf Barneys Bildern sehen, sind mittlerweile zerbrochen, darunter ihre eigene.Museum Folkwang, Essen, bis 10. Oktober. Das Barney-Buch des Züricher Scalo Verlages kostet während der Ausstellung 59 Mark, ansonsten 98 Mark.

Thomas Machoczek

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