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Das Kreuz mit dem Kreuz. „Via Crucis“-Prozession im kubanischen Havanna (2012), kurz vor dem Besuch von Benedikt XVI.

© REUTERS

J.M. Coetzees Roman "Der Tod Jesu": Das Evangelium nach Simón

Was bitteschön sind heilige Schriften? Der Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee beschließt seine Jesus-Trilogie.

Von Gregor Dotzauer

Heilige Bücher gibt es im Überfluss. In monotheistischen Breiten haben naturgemäß die Bibel, der Koran, Tanach und Talmud das Sagen, während in gottesferneren Erlösungswelten die hinduistischen Veden, die Bhagavad Gita, die buddhistischen Sutren und die Reden des erleuchteten Siddhartha Gautama regieren.

Die heillose Verwirrung lässt sich mühelos steigern, wenn man sich auch kleineren Religionen zuwendet und das Avesta einbezieht, den heiligen Text der Parsen mit der Lehre des Zarathustra, oder die Legionen von mystischen und okkultistischen Zeugnissen, die um jeden Glauben herum einen eigenen Dunstkreis bilden.

Die Heilige Schrift im Singular ist jedenfalls eine Anmaßung. Und jetzt kommt auch noch „Der Tod Jesu“ hinzu, der Abschluss einer Jesus-Trilogie des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers J.M. Coetzee. 2013 nahm sie mit „Die Kindheit Jesu“ ihren Ausgang nahm und fand drei Jahre später mit „Die Schulzeit Jesu“ ihre Fortsetzung.

Halt, wird man sagen, dies alles sind doch Romane. Ihren Erzähler Simón hat es so wenig gegeben wie ihren Protagonisten, den anfangs fünfjährigen David, den sein Erfinder nun in gerade mal jugendlichem Alter abberuft. Hat dieser David, der am Saporta-Syndrom, einer schweren Polyneuropathie, erkrankt, überhaupt das Format eines Jesus? Oder ist er nur ein hochbegabter Spinner, ein Schwererziehbarer, ein Kandidat für die Mühlen der Psychiatrie, wenn ihm denn ein Erwachsenenleben vergönnt wäre?

Aber da ist man schon mittendrin in Coetzees Nachsinnen darüber, wie religiöse Wahrheiten überhaupt entstehen. Die Quelle von Davids naseweisen Weisheiten ist nämlich ein durch und durch säkulares und fiktionales Buch: der „Don Quijote“. Dessen Jugendausgabe liest er so oft, dass es ein Teil von ihm wird. „Durch seine Stimme“, sagt Simón, „begann das Buch zu sprechen.“

Feuer und Flämmchen

Eine wachsende Zuhörerschaft hängt David an den Lippen, wenn er Cervantes-Elemente zu absurden Gleichnissen abwandelt. Verglichen mit dem Feuer, das die Bibel entfacht hat, handelt es sich um ein Flämmchen, noch dazu um eines, das von der Nachwelt interpretatorisch geschürt werden muss.

„Der Bote war die Botschaft“, mutmaßt sein treuester Anhänger, ein dem Dostojewski-Universum entstiegener Mörder namens Dmitri. „Die Straßen wimmeln von Verrückten mit einer Botschaft für die Menschheit“, weiß er. Und zugleich: „David war anders. David war das Wahre.“

J.M. Coetzee, der am 9. Februar seinen 80. Geburtstag feiert, setzt sich seit Langem mit solchen Fragen auseinander. Vor vier Jahren führte er in dem Band „Eine gute Geschichte“ einen luziden Dialog mit der Psychotherapeutin Arabella Kurtz, in dem die beiden sich über die unterschiedlichen Formen subjektiver, intersubjektiver und objektiver Wahrheit austauschen. Was dort rein intellektuell verhandelt wird, geht hier einen coetzeetypischen dritten Weg zwischen der Strenge des philosophischen Arguments und der vermeintlichen Unverbindlichkeit literarischer Erfindung.

Kleines ABC der westlichen Kultur

Dabei verarbeitet er nebenbei alles, was ihn in zuletzt umgetrieben hat: das Verhältnis von Mensch und Tier, das Unbehagen an der Hegemonie des Englischen und die Frage nach den Eckpfeilern einer ins Wanken geratenen westlichen Welt. Noch nie jedoch waren Ton und Stoff so trügerisch kindlich wie in den Bänden der Jesus-Trilogie.

Stilistisch grenzt das, was Coetzee in gewohnt eisernem Präsens schreibt, an leichte Sprache. Ideengeschichtlich bescheidet es sich mit dem Wenigen, das ihm zum Selbstverständnis des westlichen Kulturkreises unverzichtbar erscheint: eben die Bibel, Cervantes als Urvater des europäischen Romans, dazu Platon, Aristoteles und die Sophisten, die sie auf den Plan riefen, und ein Johann Sebastian Bach in spanischer Verkleidung.

In Gesprächen hat Coetzee (unter auffälligem Verzicht auf Shakespeare) noch die „Ilias“ des Homer hinzugefügt.

„Die Kindheit Jesu“ begann mit der Ankunft von Simón und David in einem jenseitig anmutenden, freudlos grauen Land. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben und ihren ursprünglichen Namen gelangten sie an Bord eines Schiffes in ein Auffanglager, bevor sie sich auf die Suche nach einer geeigneten Mutter machten: Sie tauchte in Gestalt einer gewissen Inés auf.

Die Fährnisse dieser wenig heiligen, weder von Blutsverwandtschaft noch Liebe zusammengehaltenen Patchwork-Familie, zu der schließlich noch der Hund Bolívar stößt, konnten beginnen.

Auftrag zur Heiligenlegende

Im „Tod Jesu“ zerfällt sie endgültig, was nicht zuletzt mit Davids Insistieren darauf zu tun hat, als Waise in ein Waisenhaus zu gehören. Simón muss dem Abtrünnigen allerdings versprechen, ein Buch über dessen Taten zu schreiben, ohne sie interpretieren zu wollen: „Ich werde einfach deine Geschichte erzählen, soweit ich sie kenne, ohne dass ich versuche, sie zu verstehen, vom Tag an, als ich dir begegnet bin.“ An dieser Stelle gibt sich der heruntergehungerte Ideenroman, als der das Projekt begann, unwiderruflich als Heiligenlegende zu erkennen - als das Evangelium nach Simón.

Mit seiner Jesus-Trilogie erklärt Coetzee heilige Schriften zu dem, was sie sind: zu Literatur. Das entwertet sie nicht, aber es weist sie jenem Raum des Irdischen zu, aus dem heraus überhaupt erst Bedürfnisse nach Transzendenz entstehen. Im Angesicht der Religionskritik von Ludwig Feuerbach bis zu Sigmund Freud klingt das erst einmal wenig originell.

Coetzee, religiös musikalisch, aber in keinem Glauben verankert, meint es aber gar nicht unbedingt kritisch. Denn was er der Religion an höherer Wahrheit nimmt, erstattet er der Literatur in der Fähigkeit, menschlichen Sinn zu erzeugen, zurück.

Konzeptkunst mit Ansage

Man kann diese Trilogie zu bloßer Konzeptkunst erklären. Die Sache ist nur, dass ihr Schöpfer daraus keinen Hehl macht. Außerdem würde man den einzigartigen, zwischen allen Gattungen angesiedelten Forschungscharakter dieses Unternehmens verkennen. Zwar gibt es verführerischere Entrees zu Coetzees Welt – und dieser letzte Band taugt nur zusammen mit den Vorgängern zur Lektüre.

Man muss deshalb aber nicht gleich zu vordergründig saftigeren Erzählanordnungen wie „Warten auf die Barbaren“ oder „Schande“ greifen. Mit „Siete Cuentos Morales“ sind vor zwei Jahren sieben Erzählungen erschienen, die Coetzees spröde Kunst exemplarisch vorführen. Als Buch hat er sie seinen englischen und deutschen Lesern bisher bewusst vorenthalten. Bis auf Weiteres liegen sie nur auf Spanisch und Französisch vor.

2002 verlegte er seinen Wohnsitz von Kapstadt, wo er von 1984 an eine literaturwissenschaftliche Professur innehatte, erst ins australische Adelaide. Vor fünf Jahren dann fand er plötzlich verstärktes Gefallen an Buenos Aires, wo er im Rahmen eines eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhls für Literaturen des Südens zweimal pro Jahr an der anglozentrischen Beschränktheit seines Kanons rüttelt.

Bei der letztjährigen Director’s Lecture des Neubauer Collegiums in Chicago beschrieb er, wie ihm als kleiner Junge die zehn, seinerzeit in England und Amerika weitverbreiteten Bände von Arthur Mees „Children’s Encyclopedia“ diesen Blick auf die Welt einflößten, der ihn, den Sohn von Afrikaanern niederländischer und deutsch-polnischer Herkunft, mit einer falschen Perspektive ausstatteten.

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Mit zwei Ausnahmen kann man die „Cuentos Morales“ aber auch aus Zeitschriften wie der „New York Review of Books“ zusammenklauben – oder sie sich von ihm selbst auf YouTube in seiner unnachahmlich britisch eingefärbten Klarheit, Zurückhaltung und Entschiedenheit vorlesen lassen.

Man höre „The Dog“ über die gewaltgeprägte Fremdheit zwischen Mensch und Hund oder „The Glass Abattoir“ („Das gläserne Schlachthaus“ soll in der kommenden Ausgabe der „Neuen Rundschau“ erscheinen) über die industrielle Auslöschung von Tierleben zum Zwecke des Fleischverzehrs. Und man begreift, welche Fragen diese Texte, die in den Kosmos seiner „Lektionen“ um die fiktive Schriftstellerin Elizabeth Costello zurückführen, auch ohne eindeutige Botschaften schultern.

Anders als einer seiner Helden, Samuel Beckett, hat es Coetzee, der mit dem Spanischen nur flirtet, nie zum Sprachenwechsel gebracht. Beckett, vermutet er, habe über den Reichtum der englischen Sprache in einem Maß verfügt, wie es im 20. Jahrhundert nur noch James Joyce gegeben war. Die Kanalisierung des Wörterstroms, die das Französische mit sich brachte, habe Beckett als Erleichterung empfunden. Vor diesem Hintergrund wirkt nicht erst die in einem spanischsprachigen Umfeld angesiedelte Jesus-Trilogie wie Coetzees trotziger Versuch, das Englische einer befreienden Verknappung zu unterwerfen, die ihn zugleich eine koloniale Last abwerfen lässt.

J.M. Coetzee: Der Tod Jesu. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2020. 221 Seiten, 24 €.

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