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Kultur: Das Gehirn entscheidet gar nichts

Warum die Neurobiologie unsere Idee von Willensfreiheit nicht zerstören kann. Ein Gespräch mit dem Philosophen Peter Bieri

Herr Bieri, prominente Hirnforscher wie Gerhard Roth oder Wolf Singer leugnen die Freiheit unseres Willens. Was würde passieren, wenn wir das Vertrauen in die Verantwortung des Menschen für seine Taten verlieren?

Es wäre ein Alptraum. Wir würden alles verlieren, was uns an menschlichen Beziehungen wichtig ist. Stellen Sie sich vor, wir wachten morgen auf und hätten die Sprache des Handelns, Wollens und Begründens vergessen. Wir wüssten nicht mehr, wie wir den Menschen um uns herum begegnen sollten. Wir wären für einander nur noch Meteoriten – unverständliche Körper, denen man besser aus dem Weg geht. Wir haben die Sprache des Geistes und des freien Willens geschaffen, um die anderen und uns selbst als Personen sehen zu können. Im Übrigen ist es fraglich, ob wir aufhören könnten, uns so zu sehen. Doch vor allem wollen wir damit nicht aufhören.

Sie meinen, dass es die menschliche Eitelkeit zu sehr kränkt, sich als Biomaschine zu betrachten?

Nein, es ist keine Frage der Eitelkeit und keine der Weltanschauung. Es hat damit zu tun, dass wir die Dinge, die uns in der Welt begegnen, auf ganz unterschiedliche Art beschreiben können. Diese Beschreibungsweisen dienen verschiedenen Zwecken und stehen zueinander nicht in Konkurrenz. Denken Sie an ein Gemälde an der Wand. Sie können darüber als Gegenstand mit physikalischen und chemischen Eigenschaften reden. Sie können aber auch darüber sprechen, was es darstellt, was es ästhetisch taugt und was es kostet. Wir können uns, wie der Chirurg, in der Sprache der Anatomie oder Physiologie als bloße Körper beschreiben, und wir können uns in der Sprache des Geistes als Personen beschreiben. Keine Beschreibungsweise ist in sich richtiger als die andere, keine ist zugunsten der anderen aufhebbar. Nur Naturwissenschaftler neigen zu der Überzeugung, dass sie die eigentliche Wirklichkeit beschreiben – das, was wirklich wirklich ist. Aber das ist ein Mythos.

Kurz gesagt: Sie bezweifeln, dass die Neurobiologie unserer Idee von Willensfreiheit überhaupt etwas anhaben kann?

Ja. Der Begriff der Freiheit gehört zu einem Repertoire, mit dem wir uns als Personen beschreiben, also zu Begriffen wie Absicht, Handlung,Grund. Dort hat der Begriff der Freiheit seinen logischen Ort. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse gehören in einen ganz anderen Rahmen.

Empfinden Sie Erkenntnisse darüber, wie die neuronalen Prozesse die kognitiven steuern, also nicht als Herausforderung?

Man muss von einer schrankenlosen Freiheit ausgehen, um sich von den Entdeckungen der Gehirnforschung erschrecken zu lassen. Nur wenn man glaubt, dass die Freiheit des Willens die Fähigkeit sein müsste, eine völlig neue, geschichtslose Kausalkette in Gang zu setzen – nur dann kann man verblüfft, schockiert oder verstört sein, zu erfahren, dass alles, was wir wollen, Vorbedingungen hat. Im Grunde hängt jeder, der sich gegen die Entdeckungen der Neurowissenschaften sträubt, insgeheim einer solchen absoluten Freiheit an. Und umgekehrt: Nur wenn ein Neurowissenschaftler die absolute Freiheit zum Maßstab macht, kann er glauben, dass seine Entdeckungen Freiheit und Verantwortung als Illusion entlarven können.

Sie argumentieren als analytischer Philosoph. Was bedeutet das?

Etwas ganz Einfaches. Die Philosophie, wie ich sie verstehe, ist der Versuch, sich im eigenen Denken zu orientieren – so wach, artikuliert und genau wie möglich. Wenn wir eine natürliche Sprache lernen, wachsen wir in eine Gedankenwelt hinein, in der es Begriffe gibt wie Freiheit, Verantwortung oder Vernunft. Wir plappern sie erst einmal nach. Erst später entdecken wir, dass uns nicht wirklich klar ist, was wir sagen.

Wie wollen Sie Klarheit schaffen?

Es ist, wie wenn man sich für eine Stadt, in der man bisher nur herumgeirrt ist, einen Stadtplan zurechtlegt. Die Philosophen sind gewissermaßen die Kartografen. Für die Freiheit heißt das zunächst, sich zu fragen: Wie funktioniert dieser Begriff? Wozu haben wir ihn erfunden?

Die Neurobiologen sagen, dass es keine Willensfreiheit gibt, weil auf der Ebene des Gehirns immer schon alles entschieden ist.

Diese Ausdrucksweise ist eine Falle. Es hört sich an wie: Es sind gar nicht wir, die entscheiden, sondern das Gehirn und seine neuronalen Prozesse. Und das wiederum klingt wie: Wir sind Marionetten eines uns fremden Geschehens. Aber auf der Ebene des Gehirns ist gar nichts entschieden, dort kann sich gar nichts entscheiden. Dort gibt es physikalische Aktivitätsmuster und chemische Prozesse, sonst nichts. Es ist ein Fehler, in die neurobiologische Rede über das Gehirn einen Begriff wie entscheiden aus der Sprache des Geistes einzuschmuggeln. Denn wenn man es tut, macht man das Gehirn, ohne es zu wollen, zu einem Homunkulus, also einer kleinen Person in der großen Person.

Noch einmal: Die Neurobiologen stellen die Chronologie dieser Willensformung auf den Kopf. Wie soll es da nicht zu einer Konkurrenz der Beschreibungssysteme von Hirnprozess und persönlichem Erleben kommen?

Sie meinen, weil Benjamin Libet und andere herausgefunden haben, dass die so genannten Aktionspotenziale des Gehirns dem Ergebnis des Entscheidens vorgelagert sind? Das ist eine Beschreibung, die aus der Perspektive des Willens und der angestrebten Handlung gegeben wird. Dass unser Erlebnis, etwas zu wollen, physiologische Vorbedingungen im Gehirn hat, hat man immer gewusst. Einfach, weil es in unserem Erleben nichts gibt, das ohne physiologische Vorbedingungen geschieht. Jeder, der eine Kopfschmerztablette nimmt, weiß das.

Willensfreiheit und Determinismus sind für Sie also keine Gegensätze?

Nein. Diese Entgegensetzung, tausendfach wiederholt, ist eine mächtige Suggestion, die man außer Kraft setzen muss, wenn man unser Thema richtig verstehen will. Der Kontrast zum Determinismus ist der Indeterminismus. Und der Kontrast zu Freiheit ist nicht Determinismus, sondern Zwang.

Wäre es für die Idee der Willensfreiheit nicht beruhigend, wenn man nicht-determinierte Hirnprozesse entdecken könnte?

Ganz im Gegenteil. Ich weiß nicht, ob und wie sich ein mikrophysikalischer Indeterminismus auf der relativ grobkörnigen Ebene des Gehirns auswirkt, davon verstehe ich zu wenig. Doch wenn wir annähmen, das Gehirn würde nach Zufallsprinzipien ticken, wäre das ein Alptraum. Denn ein zufälliger Wille ist nicht das, was wir uns als Freiheitserfahrung wünschen. Er wäre etwas, das uns zustieße wie ein Gewitter. Auf der Ebene des Gehirns gibt es weder Freiheit noch Unfreiheit.

Wüssten wir nicht auch als Unfreie, was mit dem Begriff der Freiheit gemeint ist, so wie wir von Gott reden können, ohne an ihn glauben zu müssen?

Ich wüsste nicht, was es hieße, über uns selbst zu sagen: Wir sind – prinzipiell – unfrei. Wir müssten uns dazu in einer Sternstunde der wohl abgewogenen Entscheidung betrachten und bedauernd sagen können: Leider ist auch das keine Freiheit des Willens. Ergäbe das einen Sinn? Die vermisste Freiheit müsste im Kontrast zu allem stehen, was wir kennen. Wie müssten wir sie uns denken? Als Ursprung des Wollens und Tuns aus dem Nichts? Was hätte eine solche Freiheit mit uns konkreten Personen zu tun? Was wäre eine Freiheit wert, die nicht in eine Lebensgeschichte eingebettet ist?

Erklären Sie doch einmal am Beispiel der Verantwortung, was Willensfreiheit für Sie heißt.

Jemanden für etwas verantwortlich zu machen, heißt, zu ihm zu sagen: „Wir beurteilen das, was du getan hast, im Hinblick auf das, was du wolltest, und das, was du wolltest, in Bezug auf bestimmte Normen.“ Unsere Idee von Verantwortung lebt von dem Gedanken, dass der Betreffende handelte und sich nicht nur unwillkürlich bewegte, dass er die Norm kannte, und dass er die Freiheit hatte, nicht gegen die Norm zu verstoßen. Das heißt: Er hätte es sich anders überlegen können, dann etwas anderes wollen können, dann wiederum etwas anderes tun können. Das ist natürlich keine neue Idee. Wenn jemand uns schadet und wir herausfinden, dass dahinter ein Bruch zwischen Überlegen, Wollen und Handeln lag, also mangelnde Willensfreiheit, neigen wir eher dazu, ihm zu verzeihen, als wenn er es wach und kaltblütig getan hat.

Unterschätzen Sie nicht, dass wir in unseren Entscheidungen unendlich zerrissener sind, als Sie es beschreiben, weit über das Handeln wider besseres Wissen hinaus?

Zweifellos sind wir oft nicht freie Regisseure unseres Lebens, sondern stolpern mit mehr oder weniger Glück durch dieses Leben. Aber die Frage ist nicht: Sind wir das ganze Leben hindurch in jedem Moment frei in unserem Willen?, sondern: Worin besteht der freie Wille? Und die Antwort ist: Der freie Wille ist derjenige Wille, der sich unserem Urteil darüber fügt, was das jeweils Beste ist. Und wir müssen eben einräumen, dass unser Wille sich diesem Urteil oft nicht fügt.

Welchen Kräften fügt er sich dann?

Emotionen, Erinnerungen, Stimmungen. Wir sind dann im gewissen Sinn der Spielball dessen, was von außen und innen auf uns einstürmt. Es macht nichts, wenn wir uns in unwichtigen Dingen treiben lassen. Zur Idee eines gelingenden Lebens gehört aber das Bedürfnis, in den wichtigen Sachen nicht zu stolpern. Denken Sie an eine Berufswahl. Worin besteht Ihre Freiheit? Sie besorgen sich Informationen. Sie malen sich aus, was diese oder jene bedeutet. Sie bewerten die Informationen, und aufgrund dieser Bewertung entwickeln Sie den Willen, diesen oder jenen Beruf zu ergreifen. Das ist der tagtägliche, der minütliche Prozess, in dem sich Ihr Wille formt.

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.

1944 in Bern geboren. Studium der Philosophie, Anglistik, Klassischen Philologie und Indologie. Seit 1993 Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Analytische Philosophie an der FU Berlin. Mitbegründer des Forschungsschwerpunkts Kognition und Gehirn bei der DFG. 1991 veröffentlichte er bei Hanser die Studie „Das Handwerk der Freiheit “ – Über die Entdeckung des eigenen Willens, ein Buch, das ganz ohne Fußnoten und philosophischen Jargon auskommt.

Als Taschenbuch liegt es im S. Fischer Verlag vor. Unter dem Pseudonym Pascal Mercier hat Bieri bei Hanser auch drei Romane veröffentlicht– zuletzt „Nachtzug nach Lissabon “.

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