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Kultur: Das Glück sammeln

Das Jüdische Museum ehrt Heinz Berggruen mit dem Preis für Verständigung und Toleranz. Eine Lobrede von Michael Naumann

Heinz Berggruen – wieso jetzt erst, bei der vierten Preisverleihung des Jüdischen Museums? Da ich dem Preiskomitee angehöre, verfalle ich Erklärungen vermeidend auf ein Bild Paul Klees im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, Berggruens Lieblingsbild „Hauptweg und Nebenwege“. Auch Juroren beschreiten Nebenwege, ehe sie zurück zum Hauptweg finden. Und die rhetorischen Umwege des Laudators folgen der Biografie eines außergewöhnlichen Menschen, der das labyrinthische, finstere 20. Jahrhundert mit einer ironischen Lebensbejahung durchschritten hat, die er, der große Sammler Klees und Picassos, den Kunstwerken entnommen haben muss.

Ehrungen wie diese sind nichts Neues für Heinz Berggruen: Er ist Ritter der französischen Ehrenlegion, Träger diverser Orden, ist Ehrenbürger Berlins. Vor allem aber – und das sagt sich nicht so leichthin – sind Sie, lieber Heinz Berggruen, ein Mensch, dem im bald 92. Lebensjahr mehr Liebe und Verehrung zufließt in einem Land, als er je sich hätte träumen lassen, als dieses Land ihn in einem Anfall von tiefer Dummheit und politischer Raserei in die Fremde verstieß.

Als Kosmopolit ist er heimgekehrt in die Stadt seiner Kindheit, vielleicht auch bewegt von jener seltsamen, an Trauer grenzenden Sehnsucht nach dem ursprünglichen Zuhause, nach der Sprache und Welt der Eltern. Der junge amerikanische Soldat Berggruen, der von 1946 an als Herausgeber der Zeitschrift „Heute“ in der Tradition des Berliner Feuilletons Spuren der geistigen Verwüstung sammelte, hielt es nicht lange im so genannten Vaterland aus, doch seine journalistischen Fundstücke der Nachkriegszeit haben überdauert. Aus der Nachkriegswelt der Schieber und Opportunisten hat Heinz Berggruen Dokumente eines angepassten Galgenhumors gerettet, der vielleicht nicht immer absichtlich war. So zitiert er eine Anzeige des „Darmstädter Echos“: „Junge Dame, Büroangestellte, gibt Abendstunden in Demokratie nach sechs.“ Ein halbes Jahrhundert später dürfen wir behaupten, dass die junge Dame gelehrige Schüler gehabt haben muss.

Heinz Berggruen hielt es nicht lange im Land des verspäteten Nachhilfeunterrichts in Freiheit und Demokratie. Er fand den Hauptweg seines Lebens in Amerika und Frankreich, vor allem aber in der Kunst. Als er, erst bedeutender Pariser Galerist, Freund von Picasso, Matisse und Miró, dann einzigartiger Händler und Sammler, 1973 die amerikanische Staatsbürgerschaft eintauschte gegen die deutsche, als er schließlich 1996 mit 113 Meisterwerken nach Berlin zurückkehrte, versetzte er seine Freunde in Staunen. Wie könne ein Jude in das Land des Holocaust freiwillig zurückkehren? Berggruen setzte als Antwort die Autorität seines eigenen Lebens entgegen. Und die Welt seiner Bilder.

Wer als Jude in Deutschland geboren wurde, wem das ursprünglich ganz egal war, bis es ihm mit den Nürnberger Rassegesetzen auf mörderische Weise vorgehalten wurde, der hat, so will man meinen, keinen Grund, heiter und mit einem großen Geschenk beladen nach Deutschland zurückzukehren. Doch Berggruen brachte seine eigene Zuflucht mit nach Berlin, die Berggruen-Sammlung der klassischen Moderne, die jedem, der sich ihr zu öffnen versteht, Schutz und Trost anbietet, aber auch das eigentlich unverdiente Gefühl, teilzuhaben am künstlerischen Genie der Großen unserer Zeit.

Wir möchten hier von Tugenden reden, Berggruens Tugend der Toleranz preisen. Aber seine Toleranz gegenüber den Deutschen bedeutet nicht: Akzeptanz, besinnungslose Hinnahme der Geschichte, sondern Anerkennung eines Landes, das den Weg zurück gefunden hat in das Bündnis der zivilisierten Nationen.

Wer durch das Wunderwerk seiner Sammlung wandert, vergisst, dass hinter den Bildern und Skulpturen einst der rebellische Gestus gegen jahrhundertealte Sehgewohnheiten steckte. Hinter den Werken Picassos, den zarten Abstraktionen Klees, den Reduktionen Giacomettis verbergen sich für die Kulturkämpfe der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts die Erinnerungen an die Wahnsinnigkeiten politischer Zensur. Für den unbefangenen Besucher hingegen offenbart sich das unaussprechlich Schöne der Kunst.

Die Adepten der so genannten Rezeptionsästhetik wüssten wahrscheinlich nicht zu erklären, wie es Berggruen gelingen konnte, eine Sammlung zu gestalten, die seinem eigenen Wesen entspricht. Einem Geist, der die Welt mit einer womöglich grundlosen – oder: utopischen – Zuneigung betrachtet, die sich ihres prekären Optimismus gleichwohl ironisch bewusst ist. Schon in seinem ersten Buch „Angekreidet“, erschienen 1947 im Rowohlt Verlag, finden sich feuilletonistische Beobachtungen im Stile Kästners, die mit gelegentlichem Sarkasmus die Flucht der Nachkriegsdeutschen aus ihrer historischen Verantwortung beschreiben. Am Ende findet sich ein imaginäres Telefonat der beiden Erfinder Reis und Bell: „Die technische Verständigung haben wir ja erreicht – die Verständigung, um die es jetzt geht, scheint allerdings viel schwerer zu erlangen.“

Nationen haben kein Bewusstsein, ja nicht einmal eine so genannte „Leitkultur“. Verständigung ist nur zwischen einzelnen Menschen möglich. Nationen reden nicht miteinander, sondern allenfalls ihre Bürger, ihre politischen und kulturellen Repräsentanten. Aber um eine gemeinsame Sprache zu finden, bedarf es einer Fülle von Voraussetzungen. Eine davon ist die gemeinsame Offenheit gegenüber den Versprechungen und Herausforderungen der Künste. Ihre Funktion, so sahen es die Klassiker, sei die „Reinigung der Seelen“. Wer Heinz Berggruen als Museumsführer in seiner Sammlung erlebt hat, der glaubt an die kathartische Wirkung großer Kunst. Und der glaubt auch an Berggruens ganz besondere Begabung, genau das einzulösen, wofür dieser Preis ihn rühmen möchte: Verständigung. Verständigung ist ein merkwürdiges deutsches Wort, in dem „Verstand“ und „Verstehen“ versöhnt sind. Es bezeichnet einen Prozess zwischen Menschen, die womöglich im Streit gelegen haben. Kunst, so sagt uns Berggruens Museum, ist streitlösend, tröstlich und befreiend zugleich.

Dass ihre Aufgabe darin liege, die Menschen aus Kampf, Rechthaberei und seelischer Finsternis zu befreien, war die hoffnungsvolle Ansicht der aristotelischen Poetik. Dass sie heute helfen kann, unsere Alltagsängste zu überwinden, dafür zeugen die großartigen Fundstücke am Ziel der Haupt- und Nebenwege von Berggruens Sammlerleidenschaft. Für uns Journalisten, die wir gerade die Farben des wirtschaftlichen Untergangs und einer angeblichen politischen Ausweglosigkeit zur Grundierung unserer modischen Weltanschauung gemacht haben, ist das eine der schwierigsten Vorstellungen: dass es eine Form des Glücks gibt, die nichts zu tun hat mit Lohnnebenkosten, Deckungsbeiträgen, Inflations- und Wachstumsraten.

Wer sich ein Bild dieses Glücks machen will, dem ist ein Blick auf jenen kleinen Vogel aus der Werkstatt Picassos zu empfehlen, für mich eins der schönsten Werke in Berggruens Sammlung. Aus Draht, Treibholz und einem Klacks Gips geformt, scheint der kleine Vogel zu singen, bereit, jederzeit fortzufliegen, falls sein Gesang nicht mehr bewundert wird.

„Ich male so, wie andere ihre Autobiografie schreiben“, sagte einst Picasso. Heinz Berggruen sammelt so, wie er lebt: großzügig, fantasievoll, enthusiastisch und stets davon überzeugt, dass es auf den Nebenwegen meist bunter zugeht als auf dem Hauptweg. Auf dem Hauptweg warten inzwischen Ehrungen auf ihn wie diese, auf den Nebenwegen aber spielt immer wieder das Leben, sein Leben. Dass er es mit uns teilt, ist unser Glück.

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