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Kultur: Das Glück wohnt in der Kiste

Sebastian Weigle und Christof Nel erklären Strauss’ „Frau ohne Schatten“ an der Frankfurter Oper zum Krimi der Psychoanalyse

Was für ein Triumph! Welche Kraftanstrengung! Am Ende dieses musikalisch hinreißenden Abends stehen die Angehörigen der Frankfurter Oper wie glücklich begossene Pudel auf der Bühne und lassen sich feiern. Für ihren Mut, mit Strauss’ „Frau ohne Schatten“ eines der gefürchtetsten Schwergewichte des Repertoires gestemmt zu haben; für die Überzeugungstäterschaft, die der Aufführung buchstäblich aus allen Poren quillt und die besagt, dass dieses Stück, das seine letzte Renaissance Mitte der 90er Jahre erlebte, keineswegs „durch“ ist – und dass diese Partitur, wie jede große Musik, niemals und nirgends wirklich ausgehört sein kann, weil sie immer und überall quer steht in der Welt und in der Zeit. Und Jubel, Ovationen ganz einfach auch für das Können, die handwerkliche Präzision, mit der Orchester, Chor, Statisterie und Solisten hier die Flucht nach vorn antraten.

Dabei trägt das Opernglück am Main zuallererst einen Namen, nämlich den – und das wird Berlin freuen – von Sebastian Weigle. Was der junge Dirigent und ehemalige Berliner Staatskapellmeister hier leistet, ist fulminant. Zum einen weiß man, dass gerade das Frankfurter Museumsorchester durchaus auch anders kann; zum anderen klingt dieses Stück selbst unter der lebenslänglich straussgesättigten Stabführung eines Wolfgang Sawallisch bisweilen grob und roh, und als sei es seiner glitzernden Instrumentationskünste zum Trotz doch bloß üppig, bloß luxuriös gemeint und vor allem: mächtig kräftig laut (sogar die legendäre Live-Aufnahme mit Karl Böhm und dem Orchester der Wiener Staatsoper von 1977 legt davon Zeugnis ab). Keine Spur von alledem bei Weigle. Einerseits weiß er das Doppelsphärische der Partitur – Geisterweben und Menschenwelt, das Kaiserpaar oben und die Färbersleute unten – im Gestus klar voneinander zu scheiden. Dieses nämlich bedeutet: Wenn der „hohe“ Stil gefragt ist, die alabasterkühle Künstlichkeit des Hofmannsthalschen Märchenjenseits und also das so genannte „Ariadne“-Orchester, dann senken Weigle und die Seinen – bildlich gesprochen – ihre Stimmen, dann zieht sich der ganze elefantöse Apparat mit einem Mal auf feinste kammermusikalische Nuancen zurück, auf ein Tasten und Spintisieren einzelner Instrumente, ein Blühen wie im Verborgenen.

Die Exposition des ersten Aktes etwa („Licht überm See“), das traumatische Geschehen um Amme, Geisterboten und Kaiser gerät so zu einem Krimi der hochgespannten, regelrecht hysterischen Innerlichkeit. Wendet sich der Blick mit der nächsten Einstellung jedoch dem Irdischen zu, den keifenden Brüdern des Färbers Barak etwa oder den fliegenden Fischen in der Pfanne der gebärunwilligen Färberin, dann schöpft Weigle aus dem brodelnd Vollen, dann stülpt sich nach außen, was die Partitur an sublimierten oder nicht sublimierten Leidenschaften durchweht und an dunkel freudianischen Ahnungen – ohne freilich im Ton jemals pastos zu werden oder gefühlig oder gar bräsig breit (es gibt einen Brief von Strauss, in dem er sich bei Hofmannsthal für dessen „Notschrei gegen das Wagnersche Musizieren“ bedankt, der ihm, Strauss, die Tür zu einer ganz neuen „Landschaft“ aufgestoßen habe).

Gleichzeitig aber gelingt es Weigle mit raschen unprätenziösen Tempi, einer betont schlanken Anmutung des Ganzen und emphatischer Vorstellungskraft, die zwei Sphären so miteinander zu verquicken (und das ist das Tolle!), dass die eine in der anderen immerzu präsent ist, und das Hohe durch das Niedere, das Gespenstig-Heroische durch das Menschlich-Empfindsame foliengleich hindurchschimmert und -scheint. Selbst die riesenhaft sich auftürmende Schluss-Apotheose, in der Gattinnen und Gatten treulich zueinander finden, sprengt hier nicht den Rahmen, sondern krümmt sich gleichsam zurück in das Stück – warnend, mahnend, dass der Besitz des „Schattens“, jenes Sinnbildes einer erfüllten Menschlichkeit, immer auch Opfer fordert. Wo Richard Strauss 1913 schon lang an nichts mehr glaubt und weniger von der Bedeutung seiner Figuren spricht als von deren „roten Blutkörperchen“, da behauptet auch Weigle keine wabernde Klangmystik oder falsche Metaphysik – und erst Recht kein finales Aufrauschen in Erlösung. Dieser Mut zum Machartlichen tut der zweifellos letzten „romantischen“ Oper der Moderne ungeheuer wohl.

Mögen die beiden Frankfurter Protagonisten-Paare nach viereinhalb kräftezehrenden Stunden auch an gewisse Grenzen stoßen, so schlagen sie sich bis dahin doch fabelhaft. Vielleicht bleibt Stephen O’Mara als Kaiser den heldischen Schmelz ein wenig schuldig; Silvana Dussmann aber, seine Kaiserin, ein dralles Puppenkind in knisternden Rüschenkleidern, weiß durch Textverständlichkeit und eine leuchtende Biegsamkeit im Sopran zu begeistern, die in dieser Partie derzeit wohl ihresgleichen sucht. Auch das niedere Paar ist auf den Punkt besetzt: mit Elizabeth Connell als bewährter, mitunter leider zum Forcieren neigender Färberin und Terje Stensvold als gutmütig-trotteligem Barak – ein samtweicher und dennoch dramatisch focussierter Bariton, dessen Gesangskultur und Timbre an lang vergangene, selige Sängerzeiten denken lässt. Das Hauptlob des Abends aber gebührt Julia Juons Amme. Wohl nicht stimmlich, da gibt es andere, vollmundigere, auch: schöner klingende. Darstellerisch aber agiert Juon – ein schmales Mütterlein mit Federhütchen und Kittelschürze (Kostüme: Ilse Welter) – derart eindringlich, dass man das Drama dieser Person auf den ersten Blick erfasst. Eine Frau, die ihre Macht überreizt und bitter bestraft wird. Ein Mensch, der an seiner eigenen Kälte verzweifelt.

Natürlich sind solche Tiefenblicke in die Figuren auch Christof Nels Regie-Verdienst. Sein Bühnenbildner Jens Kilian hat ihm eine sandsteinfarbene, von Einschusslöchern durchsiebte Kiste auf die Drehbühne montiert (derlei muss in der Oper gerade Mode sein). Drinnen begegnen den Frauen lauter grässliche Phantasmagorien des „richtigen“ Lebens: Maskierte Männer, die auf sie zurobben, Messingbetten, die schräg in der Luft hängen, dunkle Schränke, die ins Bodenlose wachsen – während draußen der Kaiser mit einem Gefolge tierköpfiger Flintenträger patrouilliert. Am Ende aber, wenn alles gut ist, verschwinden die frisch vereinten Paare in ihrer Kiste hinter ein paar blütenweißen Gardinen. Das Glück, sagt diese Inszenierung, ist nur die nächste Katastrophe. Als hallte in der „Frau ohne Schatten“ bereits das ganze Elend des 20. Jahrhunderts wider.

Christine Lemke-Matwey

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