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Kultur: Das Glück der späten Jahre

Gregor Dotzauer erlebt ein doppeltes Kinowunder

Von Gregor Dotzauer

Das Glück des Wiedersehens lauert überall, auch zwei Stockwerke unter der Erde, in den dunklen Arsenalen des gläsernen Filmhauses am Potsdamer Platz. Was die Zeitläufte nicht für immer verschlucken, hier wird es von Zeit zu Zeit ausgespuckt. Und wenn dabei ein wildes jugoslawisches Nouvelle- Vague-Poem zum Vorschein kommt, das 1969 den Goldenen Bären erhielt, zittert die Erde noch Tage danach. „Rani Radovi“ (Frühe Werke) folgt drei jungen Männern und einer verführerischen Umstürzlerin beim Versuch, den wahren Kommunismus über die Landbevölkerung zu bringen. Molotow-Cocktails und Gewehre. Verhutzelte Bauern und Welterlösungsüberschwang. Ein klappriger Citroën 2CV, der abwechselnd auf einem Floß über die Donau schippert, im Schlamm stecken bleibt oder mit vereinten Kräften einen Berg hochgeschoben wird. In fröhlichen Jump-Cuts gärt und deliriert das alles vor sich hin. Und durch den ganzen Sturzbach revolutionärer Parolen und Gesänge wirbelt die 23-jährige Milja Vujanovic, eine balkanische Traumblondine, die aussieht, als könnte sie Monica Vitti zur Fußnote der Kinogeschichte erklären.

Der Jean-Luc Godard dieses aus der Enttäuschung über den missglückten Prager Frühling geborenen Debütfilms heißt Želimir Žilnik. Heute, nach einem deutschen Intermezzo wieder zu Hause in Novi Sad, ist er ein jugendlicher Mann von 70 Jahren, der sich quer zu allen Systemen als Regisseur durchgebissen hat. Und die schöne Milja? Im Film wird sie am Schluss erschossen und verbrannt. Im Leben begann sie eine zweite Karriere als Fernseh-Astrologin und weissagte unter anderem Serbiens Rückkehr zur politischen Führungsmacht. Ein knappes halbes Jahr vor Miloševics Sturz, im Mai 2000, zielte ihr als Mann schon abgelegter unternehmerischer Kompagnon mit einer Pistole auf sie und verletzte sie so schwer, dass sie querschnittgelähmt blieb. Fünf Jahre später war sie tot.

Und während Žilnik von einer fremden fernen Epoche erzählt, in der Filme wie der seine erfolgreich waren, bis sie auch in Jugoslawien an den Rand gedrängt wurden, geschieht ein kleines Wunder. Eine ältere Frau in altmodischem Kostüm stürzt mit dem Saalmikrofon auf ihn zu, schließt ihn in die Arme und erklärt, wie wunderbar es sei, ihn nach 43 Jahren wiederzusehen. Ich spiele in „Rani Radovi“ Miljas kleine Schwester, sagt sie, und der Film ist das unvergessliche Glück meiner Kindheit. Dabei ist sie nur in zwei kurzen Szenen zu sehen, zuletzt mit einem Apfel, den ihr Milja zum Abbeißen hinhält.

Perplex fragt Žilnik, was sie hier in Berlin mache. Sie erzählt, dass sie auf ihre alten Tage noch einmal Arbeit suchen wolle. Und dann suche sie noch nach ihrer Tochter, mit der sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr habe. Und es ereignet sich das große Wunder. Aus dem Publikum löst sich eine junge Frau mit scharf anrasiertem Haar und Dreadlock- Pferdeschwänzchen und fällt wiederum ihr in die Arme: Es ist – Inszenierung ausgeschlossen – die lang vermisste Tochter. Die beiden verlassen den Saal, und Želimir Žilnik fragt in die aufgewühlte Menge: „Sucht hier vielleicht noch jemand einen Sohn?“

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