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Kultur: Das große Traumlabor

Ein Besuch im ukrainischen Lemberg, Stadt der Literatur und der verwischten Grenzen

Professor George G. Grabowytsch fühlt sich rundum wohl. Er sitzt mit dem Lemberger Schriftsteller und Journalisten Jurij Wynnitschuk in einem typisch ukrainischen Restaurant und kann sich gar nicht sattsehen an den bestickten Hemden der Kellner und dem heimischen Kunsthandwerk an den Wänden. Alles strahlt jene ukrainische Gastlichkeit aus, die der Emigrant in Harvard so sehr vermisst. Beinahe glücklich beugt sich Grabowytsch zu Wynnitschuk hinüber, um seine Freude mit ihm zu teilen, als aus den Lautsprechern ein infernalischer Lärm losbricht. Russenpop, unverkennbar, und die Bedienung wippt auch noch mit den Füßen. Grabowytsch graust es. Seine Heimat befindet sich – noch immer! – in der Hand des siechen Imperiums Russland.

Als Joseph Roth Lemberg eine „Stadt der verwischten Grenzen“ nannte, kannte er Grabowytsch nicht, von dessen Erlebnis Juri Wynnitschuk in einer Kolumne erzählt. Roth dachte an die Überlagerung der vielen damals ansässigen Kulturen. Von dieser Vielfalt ist Lwiw, wie die Stadt heute heißt, zwar noch weit entfernt, obwohl es mit seinen 850000 Einwohnern fünfmal größer als das alte Lemberg ist. Aber die einstige Metropole Galiziens, die nach der Ermordung ihrer Juden und der Flucht des Bürgertums lange nur sowjetisch war, hat erneut zu schillern begonnen.

Dazu tragen die zwei Landessprachen bei, die sich voneinander unterscheiden wie Niederländisch und Deutsch: das im Westen von einer Minderheit gesprochene Ukrainisch, einst von der Sowjetunion als „Bauerndialekt“ diffamiert, und das im Osten vorherrschende Russisch. Intellektuelle sprechen von „Parallelwelten“, und manche sehen nicht nur zwei Ukraine, sondern gleich deren 22.

Polen, Litauer, Moldawier, Österreicher, Russen, Deutsche und Sowjets haben Lemberg (deutsch), Lwiw (ukrainisch) oder Lwow (russisch) mit oft blutiger Unterdrückung zugesetzt. Und sie haben der Stadt einen immensen Reichtum an Bedeutungen verliehen. Im Schachbrettmuster der Straßen, in denen überall renoviert wird, leuchten schwarze Renaissancebauten, graue Barockgebäude sowie die ockerfarbenen, leicht angestoßenen Häuserzüge der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Beim Hinüberträumen nach Italien stören die wenigen einfallslosen Sowjetbauten und die Bankpaläste aus den letzten Jahren kaum. Immer wieder eröffnen Bögen und Durchgänge überraschende Einblicke, während Straßenbahnen des Eisenzeitalters im Schritttempo über das wellige Kopfsteinpflaster schaukeln.

Geschichte allüberall. Doch die eigene kommt den 1991 unabhängig gewordenen Ukrainern etwas zu kurz. Deshalb wurde vor drei Jahren König Danylo von Halitsch, dem Stadtgründer, in Lwiw das wohl einzige Reiterstandbild des 21. Jahrhunderts errichtet, und der Nationaldichter Schewtschenko wird an jeder Straßenecke geehrt. Dieses Lemberg, die Stadt der Vergangenheit, mag in Westeuropa noch bekannt sein, das Lwiw der Gegenwart ist es nicht. Es teilt das Schicksal der Ukraine. Dabei hat der Westen das zweitgrößte Flächenland des Kontinents und seine 48 Millionen Einwohner nicht einmal vergessen. Er glaubt nur, genügend darüber zu wissen: Tschernobyl, Mafia, Korruption. Keine Diktatur, aber fest in den Händen von Oligarchen. Wer dennoch die Einreise wagt, dem verspricht schon auf dem amtlichen Einwanderungsformular eine Agentur, seiner ukrainischen „special lady“ Visa für die USA zu beschaffen. Verwischte Grenzen eben.

Ein besserer Humus für Literatur war und ist kaum denkbar. In diesem Landstrich wuchsen Joseph Roth, Bruno Schulz, Karl Emil Franzos auf – und nun der 44-jährige Juri Andruchowytsch. Seinen seltsamen Essayband „Das letzte Territorium“, letzten Herbst bei Suhrkamp erschienen, bevölkern neben urwüchsigen Huzulen moderne „Suhrshyks“, „diese chimärische Mischung und Frucht bilinguistischer Blutschande“ aus Russisch und Ukrainisch. Rachmanen, vor 7500 Jahren in Kähnen und auf fliegenden Teppichen aus Indien geflohen, wirken in der Bukowina. In den Essays schnurren solide, entlegene und verstiegene Kenntnisse zu schrillen Vexierbildern zusammen.

Andruchowytsch ist nicht der einzige gewichtige Literat in Lwiw. Sei drei Jahren erlebt die junge ukrainische Literatur einen Boom und bietet inzwischen alles, so der Germanist und Musil-Übersetzer Jurko Prochasko: von Karnevalistik über Pop bis zu Neuem Biedermeier. Allerdings scheint der grenzüberschreitende Handel mit Frauen deutlich besser organisiert zu sein als der mit Büchern. Am einfachsten hat es der auch in Deutschland erfolgreiche, von Diogenes verlegte Andrej Kurkow: Der 43-Jährige schreibt nämlich auf Russisch. Für das Ukrainisch von Natalia Snjadanko, Oksana Zabuschko, Sergij Schadan, Juri Izdrik oder Juri Wynnitschuk gibt es hierzulande hingegen keine professionellen Übersetzer.

Also lud das Literarische Colloquium Berlin Ukrainisten aus Greifswald, Genf und Wien zu einem Übersetzerseminar nach Lwiw. Die meisten der sprachbegabten Wissenschaftler lehren ukrainische Studenten Deutsch, und manche kennen die Landessitten so gut, dass sie ihren Führerschein einem 50-Euroschein verdanken. Die Sorgen ukrainischer Verleger konnten sie kaum überraschen. „Die staatliche Kulturpolitik ist keine Katastrophe“, schüttelte Wolodymyr Dmyterko den Kopf. Der Chef des Verlags Klasyka im Lwiw meint: „Eine Katastrophe wäre immerhin greifbar.“ Achtzig Prozent der Gelder für Kultur werden in Kiew ausgegeben, und die Steuerpolitik verfährt so willkürlich, dass sie das Geschäft der Verleger zeitweise zum Erliegen bringt.

Nach der Unabhängigkeit, als die zentralen Moskauer Strukturen zusammenbrachen, reisten die Verleger mit Taschen voller Bücher durchs Land. Inzwischen gibt es wieder 600 Verlage, zwanzig davon gelten als professionell. Geld verdienen sie vornehmlich mit Unterrichts- und Lehrwerken. Anspruchsvolle Literatur findet im Schnitt nur 1000 Leser, von vielen Büchern muss eine ukrainische und eine russische Ausgabe erarbeitet werden. Übersetzungen von Milan Kundera, Robert Musil oder auch Judith Hermann wären unmöglich, würden nicht die amerikanische, in Osteuropa engagierte Soros-Stiftung und nationale Kulturinstitute die Kosten übernehmen.

Ähnlich schmal wie die ökonomische Basis ist die intellektuelle. Die nach dem Vorbild der „New York Book Review“ gestaltete Zeitschrift „Krytyka“ druckt zehn Ausgaben im Jahr, mit Essays etwa „gender studies“ oder die bisher verschwiegene ukrainische Hungersnot Anfang der Dreißigerjahre. Finanziert wird „Krytyka“ von einer Stiftung des erwähnten Emigranten und Harvard-Professors George G. Grabowytsch, weshalb sie in der Kiewer Schewtschenko-Universität nicht ausgelegt wird.

Es fehlt nicht nur an demokratischen Strukturen, wie „Krytyka“-Verleger Andrij Mokrousow meint, sondern auch an einer kritischen Öffentlichkeit. Eine Zensur gibt es zwar nicht, aber weiterhin sterben Journalisten bei seltsamen Autounfällen, und Steuerbehörden finden bei Bedarf immer einen Verstoß gegen undurchschaubare Vorschriften.

Primäre Akkumulation also überall, oder etwas kruder ausgedrückt: Goldgräberzeit. Nun ist der Geist im Abstecken von Claims schneller als die Materie, trotz stolzer elf Prozent Wirtschaftswachstum im letzten Jahr. Das erklärt den literarischen Boom. Wer schreibt, der kann nicht anders: Nicht einmal Andrej Kurkow vermag von seinen Büchern zu leben. Viele Autoren übersetzen oder arbeiten für Medien aller Art. Manche versuchen sich als Verleger, doch nur Iwan Malkowytsch besitzt mit „Harry Potter“ einen Dukatenesel. Daher empfängt er, so wird kolportiert, jeden Mittag einen weniger glücklichen Kollegen zum Kaffee und steckt ihm 20 Grywna zu.

Wer in Lwiw solche Geschichten gehört hat, der liest Juri Andruchowytsch mit anderen Augen. Was vorher fantastisch und schrill, absonderlich und zauberhaft wirkte, erscheint nun wie das lautere ukrainische Leben. Einige Tage in Lwiw, und die Grenzen zwischen Kunst und Leben sind verwischt.

Jörg Plath

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