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Ein deutsches Monument. Die Marx-Büste in Chemnitz, das von 1953 bis 1990 Karl-Marx-Stadt hieß.

© picture alliance / ZB

Das Kapital, neu gelesen: Erstens kommt es anders

Die Marx-Engels-Gesamtausgabe ist ein MEGA-Projekt: Anlässlich der Veröffentlichung von 15 Bänden der zweiten Abteilung fand in Berlin eine Konferenz mit dem Titel "Zur vollendeten Edition eines unvollendeten Projekts" statt. Dabei ging es um, die Texte zu "Entsiegeln", sie von dogmatischer Vereinnahmung zu befreien. Zum Vorschein kam ein Karl Marx, der sich durchaus selber in Frage stellte

Karl Marx schätzte Balzac. Besonders gut gefiel ihm die Geschichte mit dem Titel „Das unbekannte Meisterwerk“. Sie handelt von einem Maler, der die schlechthin vollkommene Frauengestalt auf die Leinwand bannen will. Viele Jahre arbeitet er an dem Werk. Und als er es erstmals enthüllt, finden die Betrachter eine Vielzahl von schillernden Farbschichten, aber keine Frau. Nur an einer Unterkante erkennt man die Vollendung eines weiblichen Fußes. Marx-Forscher meinen, dass der Autor des „Kapital“ sich selbst in jenem Balzac’schen Maler wiederfand.

Denn die gängige Vorstellung von einem genialen Kopf mit abgeschlossenem Hauptwerk trifft auf Marx und sein 1867 erschienenes „Kapital“ nicht zu. Der Exilant mit Wohnsitz in der British Library hatte anfangs gehofft, mit der „ökonomischen Scheiße“ in einigen Wochen fertig zu werden. Aber nichts da, die Ökonomie und ihr Geheimnis, genauer: die Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft, zog ihn ihrerseits in Bann und fesselte seine enorme Arbeitskraft bis zu seinem Tod 1883.

In immer neuen Wellen veränderte, ergänzte, differenzierte, verschärfte der politische Ökonom das „furchtbare missile“, das er gegen die internationale Bourgeoisie abzuschießen trachtete. Das Werk wurde nie fertig. Einzig Band eins gab Marx selbst heraus, Band zwei und drei kompilierte Engels nach Marxens Tod aus Fragmenten. Aber was war und ist dieser Band eins? Zwischen erster und dritter Auflage gab es bedeutende Abwandlungen, die französische Fassung, an der Marx mitarbeitete, wirkte auf die deutsche zurück, es kam zu erneuten Varianten für die folgenden Auflagen – zeitgleich arbeitete Marx an Seitenthemen, versuchte sich an einer Mathematisierung seiner Theorie und füllte Heft auf Heft mit kommentierten Exzerpten.

All diese Niederschriften werfen wieder neues Licht auf den bereits publizierten Band und bilden eine Art Subtext. „Das Kapital“ ist nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Lebensweise, ein Perpetuum mobile der Untersuchung und der Kritik, und es versteht sich, dass die historisch-kritische Edition dieses Theorie-Corpus enorme Probleme aufwirft.

Die Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES) hat sich diese Aufgabe zugetraut und – im Anschluss an das MEGA- Projekt der DDR – eine Marx-Engels-Gesamtausgabe, die jeder editorischen und philologischen Prüfung standhält, in Angriff genommen. Jetzt ist die Zweite Abteilung mit 15 Bänden beim Akademie-Verlag fertiggestellt worden: Anlass für eine Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, die den Titel trug: „Zur vollendeten Edition eines unvollendeten Projektes“.

Viele Experten waren beteiligt, einige bestritten das Programm der Tagung. Es war Harald Bluhm aus Halle, der an die Geschichte vom unbekannten Meisterwerk erinnerte, Teinosuke Otani aus Tokio machte neugierig auf Abteilung III und IV, die jeweils einen neuen Marx ins Licht der Öffentlichkeit stellen werden. Gegen Ende seines Lebens hat der Ökonom mit einem sozusagen sich von selbst durch Zusammenbruch erledigenden Kapitalismus nicht mehr gerechnet. Er zweifelte sogar seine Lieblingsidee von der fallenden Profitrate an. Friedrich Engels erlaubte sich bei seiner editorischen Arbeit allerlei Eigenmächtigkeiten. Aber: „Die Zeiten, in denen jedes von Engels gesetzte Komma heiliggesprochen wurde, sind vorbei“, so Thomas Kuczynski, Berlin. Es gibt ja die Handschriften, man kann heute gut auseinanderdröseln, was der akribische Theoretiker Marx, der einen quasi-naturwissenschaftlichen Ehrgeiz mit seinem Nachvollzug der „ökonomischen Bewegungsgesetze“ verband, wirklich geschrieben und was sein die Dinge weniger genau nehmender Freund Engels zuweilen dazugedichtet oder weggelassen hat. Hierzu sprach der Berliner Politikwissenschaftler Michael Heinrich.

Aber interessieren solche Feinheiten außerhalb des Kreises Eingeweihter irgendjemanden? Oder so gefragt: Kann man mit den einst in der DDR erschienenen Marx-Engels-Werken (MEW), deren „blaue Bände“ während der Studentenbewegung in jeder WG anzutreffen waren, heute noch arbeiten? Als Wissenschaftler natürlich nicht. Da braucht man die MEGA. Aber als Mensch mit schlichtem Bildungsinteresse darf man auf MEW- Band 23 („Das Kapital“, Band eins), welche der vierten Auflage von 1890 entspricht, zurückgreifen. Er reicht für den Einstieg aus.

Ferner fasst die IMES eine Text- oder Studienausgabe ins Auge, die eine Lektüre unter Absehung vom wissenschaftlichen Apparat ermöglicht. Auch in die alte Volksausgabe von Korsch, zehn Euro im Antiquariat, könne man ruhig noch mal schauen, sagte Kuczynski. Tja, die MEGA ist nichts für arme Studenten, sie kostet – aber im Netz stehen sechs Bände zur Verfügung. Übrigens war „Das Kapital“ kein Verkaufserfolg. „Nicht was du schreibst, ist wichtig“, schrieb der enttäuschte Autor, die Macht der Werbung korrekt einschätzend, an Freund Engels, „sondern, dass du Lärm machst“.

Herfried Münkler, Chef der IMES, sah die Bedeutung der MEGA in der „Entsiegelung“ eines Textkörpers, der durch die Indienstnahme von dogmatischen Schulen „versiegelt“ worden war und nicht mehr atmen, leben, Unrecht haben und neu verstanden werden durfte.

Heinz D. Kurz aus Graz hielt den Festvortrag. Ach, dass Marx nur einen Torso hinterlassen habe – dieses Schicksal teile er mit vielen Theoretikern. Intellektuelle scheitern immer, weil sie gedanklich stets weiter vorausgehen wollen, als sie können. So auch Marx. „Das ist ganz normal“. Kurz’ Thema waren die nicht intendierten Folgen ökonomischen Tuns – dass es ja erstens anders kommt und zweitens als man denkt. Bei Adam Smith hieß diese Unsicherheitszone „unsichtbare Hand“, bei Marx waren es die Vollzüge „hinter dem Rücken der Akteure“.

Ja, es gibt segensreiche (gesamtgesellschaftliche) Wirkungen selbstsüchtigen Tuns, Verschwendung muss nicht von Übel sein, sie kann die Wirtschaft in Schwung bringen. Aber es hilft alles nichts: Die Profitrate fällt tendenziell. Marx belegte diese Tendenz mit hohem rechnerischen Aufwand. Und sah irgendwann, dass seine Schlüsselgröße, was den tendenziellen Fall betrifft, nicht einlöste, was er voraussah. Dieser unaufhaltsame Fall wäre eine hervorragende nicht intendierte Folge gewesen, ein Coup der „invisible hand“. Aber es kam anders. Der Kapitalismus erwies sich als zäh.

In der MEGA, die eine Umsetzung der „Formulierungspartituren“, der schwer entzifferbaren Manuskripte mit vielen Korrekturen darstellt, wird ein Karl Marx sichtbar, der sich selbst infrage stellt. Diese „Entsiegelung“ war die Nachwelt ihm schuldig, zu ihrem eigenen Vorteil. Denn der selbstkritische Marx ist, wie Kurz launig formulierte, immer noch ein MEGA-Star, den Deutschland jetzt nicht mehr zu suchen braucht.

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