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In Norwegen klärt Hélène (Vicky Krieps) für sich eine grundsätzliche Lebensentscheidung.

© Pandora Film

Das Kinodrama „Mehr denn je“: Der Tod ist auch eine Entscheidung

Emily Atefs „Mehr denn je“ ist Krankheitsgeschichte über körperliche Selbstbestimmung. Vicky Krieps ist in der Hauptrolle still und entschlossen.

Von Andreas Busche

Den eigenen Körper im Spiegel nicht mehr zu erkennen, ist eine bestürzende Erfahrung. Wenn der vertraute Anblick langsam wie eine verblassende Erinnerung verschwindet, das Selbstbild nicht mehr mit dem Körpergefühl übereinstimmt. Hélène steht ungläubig vor dem Spiegel, dann frustriert, irgendwann wird sie wütend. Die Krankheit hat sie gezeichnet, mit ihr abfinden muss sie sich erst noch.

Für sie, die in diesem Körper steckt, ist es eine Realität, mit der sie in jedem Moment ihres Lebens konfrontiert ist. Manchmal sitzt sie mit Beatmungsschläuchen vor dem Rechner, versucht sie mit Arbeit abzulenken. In einem „früheren“ Leben, so fühlt es sich zumindest an, war sie Architektin. Ihre Freunde fragen aus Hilflosigkeit, ob sie schon wieder zu arbeiten angefangen hat. Das ist der Moment, in dem Hélène der Kragen platzt.

Leben mit einem versehrten Körper

Die Akzeptanz der eigenen Fragilität, die Selbstbestimmung über den eigenen Körper sind das Thema von Emily Atefs „Mehr denn je“, in dem sich die todkranke Hélène (Vicky Krieps) aus ihrer Ohnmacht und den mitleidigen, hilflosen, verzweifelten Blicken ihrer Freunde, ihrer Mutter, ihres Mannes Mathieu (Gaspard Ulliel, dessen Tod Anfang des Jahres nun wie eine dunkle Vorahnung wirkt) befreit, um ihre letzte Reise allein anzutreten. Sie leidet unter einer Idiopathischen Lungenfibrose; ihre Lunge vernarbt langsam, erklärt sie einmal. Das Atmen fällt ihr zunehmend schwer.

Das Abendessen ist der erste Moment, in dem in ihr die Erkenntnis heranreift, dass sie niemand auf diesem Weg unterstützen kann. Ein gemeinsamer Besuch bei ihrer Ärztin, bei der eine Spenderlunge in Aussicht gestellt wird, fungiert als Auslöser für eine grundsätzliche Frage, nämlich welches das richtige, das bessere Leben mit diesem verzehrten Körper ist. Mathieu schöpft beim Krankenhaus-Termin wieder Hoffnung, während Hélène realisiert, dass sie sich von nichts und niemandem mehr abhängig machen möchten. Schon gar nicht von Ärzten.

Gesundheit ist für Kranke eine Zumutung

Es gibt momentan nur wenige Schauspielerinnen im europäischen Kino, die diese Mischung aus Verletzlichkeit und Bestimmtheit mit einem so minimalen Aufwand, mit so wenigen Worten und unergründlicher Mimik verkörpern können wie Vicky Krieps. Die Luxemburgerin entgeht jeder Versuchung, vor denen Krankheitsdramen gewöhnlich nicht gefeit sind, ihre Rolle nicht mit tragischen Gesten zu überladen. In Atef, die mit dem Romy-Schneider-Biopic „3 Tage in Quiberon“ bereits einen Film über eine Frau gemacht hat, die sich dem Fremdbild über ihre Person selbst nicht länger fügen will, hat sie die perfekte Regisseurin gefunden.

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Das Drehbuch, das Atef mit Lars Hubrich geschrieben hat, gibt ihrer Hauptdarstellerin auch keine Szenen, die auf große emotionale Momente hinauslaufen. Hélène ist eine junge Frau, die die schwierigste Entscheidung ihres Lebens mit sich selbst ausmacht. Und Krieps spielt diese Verschlossenheit, ohne das Publikum - im Gegensatz zu den Menschen, die sie lieben - vor den Kopf zu stoßen.

Selbstbestimmt oder egoistisch?

„Sie geben sich ja Mühe“, sagt Mathieu einmal zu über ihre gemeinsamen Freunde - und meint damit irgendwie auch sich selbst. Aber die sprachlose Betroffenheit in den Gesichtern vergrößert nur den Schmerz, er macht sie wütend, ungerecht gegen über ihren Mitmenschen. Auch die Selbsthilfeseiten im Internet, die mit trauriger Pianomusik den Schwermut untermalen, klickt sie nach ein paar Sekunden wieder genervt weg.

Im Netz stößt sie auf den Blog eines Krebspatienten, der seine Krankheit mit lakonischem Humor kommentiert. „Es gibt nichts Schlimmeres, als ständig von einem gesunden Menschen zu hören, wie mutig man sei“, meint Bent (Bjørn Floberg), der an einem verlassenen Fjord lebt, im Videocall mit Hélène. Diese Zumutung verpackt Atef in unterschwelligen Humor, stets in dem Wissen, dass die Krankheitserfahrung immer zwischen gesunden und kranken Menschen stehen wird.

Und darum entzieht sich Hélènes Entscheidung, sich allein im Zug nach Norwegen aufzumachen, jeder moralischen Wertung - auch wenn Mathieu ihr indirekt Egoismus vorwirft. Er kann Hélènes Hass auf sich selbst einfach nicht verstehen: für den Schmerz, den sie anderen Menschen zufügt. Die Natur - und das wäre ohne Atefs zurückhaltende und pietätvolle Inszenierung eine Plattitüde - erweckt wieder Leben in Hélène. Die Berge, in die kaum ein Handysignal dringt, das tiefblaue Wasser, die karge Hütte ohne Strom, in der Bent sie wohnen lässt, sind eine Postkartenidylle, die das Abschiednehmen erleichtert. Hélène entscheidet sich, nicht zu ihrem Leben in Bordeaux zurückzukehren.

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