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Kultur: Das Leben lesen

Berliner Szenen: Wie der Feuilletonist Detlef Kuhlbrodt zum Chronisten der Stadt wird

Detlef Kuhlbrodt ist ein klassischer Feuilletonist. Ein genuiner Zeitungsschreiber. Mit dem Medium Buch kam er bisher nicht so recht zu Rande. Er begann Ende der achtziger Jahre, für die „taz“ zu schreiben und wäre damals gern Redakteur für Alltag geworden, „aber das Ressort gab’s leider nicht“, wie er im Gespräch erzählt. Für kurze Zeit war er beim „Spiegel“, kündigte jedoch bald wieder. „Eigentlich um einen Roman zu schreiben. Ich probierte eine Weile so herum, hatte aber keine richtige Idee. Oder mir fiel es zu schwer, mir Leute auszudenken.“ Stattdessen erschienen dann ab und an längere Texte, die „kleine Hits“ wurden: ein Aufsatz über’s Möbelrücken oder Sachen wie „Der Hund in Philosophie und Literatur“, Supermarkt-Forschungen und Berichte über die Schwierigkeit, ein Sofa zu kaufen. Ein „spielerisches Post-Barthes-Alltagsfeuilleton“, nennt Kuhlbrodt das. „Es spielte im echten Berlin mit einem selber als Versuchsperson.“

Detlef Kuhlbrodt denkt sich nichts aus. Er hält die Augen offen, erlebt einfach und schreibt dann auf, was die anderen sofort wieder vergessen, weil es keine Pointe hat und meistens keine große Sache ist. Weil es oft überhaupt keine Sache ist, sondern ein bestimmtes Gefühl, ein Geruch, eine Gemütslage oder Reflexion. Die Wehmut vor dem Besuch der Eltern, die sentimentalische Gestimmtheit beim Abschied, diese Euphorie nach dem Zahnarztbesuch – man kennt das alles und liest sich selbst mit hinein.

Damit hat er sich einen gewissen Ruf erschrieben, vornehmlich in Kollegenkreisen, aber nicht nur da. „Es gab ein paar richtige Fans, denen ich mich dann auch verpflichtet fühlte. Nette Kreuzberger Punks, die sich die Texte ausschnitten und dann in die Schachtel mit dem Bloodballspiel taten und so.“ In „Morgens leicht, später laut“, der längst fälligen ersten Sammlung kürzerer Skizzen, die vornehmlich in der „taz“-Kolumne „Berliner Szenen“ erschienen, erzählt Kuhlbrodt vom letzten Freibadbesuch der Saison, von einem ruralen Outdoor-Rave, vom Flippern in seiner Kreuzberger Stammkneipe, mehrmals vom Abschied geliebter Menschen und auch von dem, was ein Schriftsteller nun mal am häufigsten macht: vom Schreiben.

Und dabei fallen dann immer wieder Sätze, die den Augenblick haikuhaft aufheben. Im Haus gegenüber wohnt ein kleines Mädchen, das offenbar keinen Kindergartenplatz bekommen hat und deshalb auch immer da ist – wie er selbst. „Nach dem Aufstehen macht die Mutter den Fernseher an, damit auch noch andere Erwachsene sind, in der Wohnung dort drüben.“

Dazwischen schieben sich aber auch Erinnerungen an die norddeutsche Provinzjugend in den siebziger Jahren: an das Musikhören am offenen Fenster in den ersten warmen Tagen des Frühlings, und zwar meistens die älteren Sachen wie Deep Purple oder Jefferson Airplane, oder an seine frühkindliche Manie, morgens und abends das Thermometer abzulesen und die Ergebnisse akribisch zu notieren. Hier äußert sich bereits der gleiche Gestus wie in seinen Texten. Es ist der Versuch einer Archivierung des Alltags.

Woher kommt diese Passion? „Von meinem Vater“, sagt er. „Der hat alles gesammelt wie viele aus dieser Kriegskindergeneration.“ Als der Sohn zwölf war, brachte ihm sein Vater den Umgang mit Fotoentwickler, Lauge und Dunkelkammer bei. Seitdem fotografiert Kuhlbrodt und stellt die Bilder neuerdings ins Netz. „Anfangs wollte ich eigentlich zur Deutschen Film- und Fernsehakademie.“

Seine literarisch-journalistischen Skizzen sind im Grunde nichts anderes als Fotos. Das Reflexive wird zunächst unterdrückt, erstmal wird genau auf die Dinge geschaut. Kuhlbrodt wittert ein Missverständnis und widerspricht: „Ich stelle das Reflexive nicht zurück. Wenn man die ,Mythen des Alltags‘ von Barthes jetzt noch mal liest, wirken sie affektiert und altmodisch. Auch sonst habe ich ziemlich oft das Gefühl, dass Leute, die die sogenannte intellektuelle Durchdringung anstreben, nicht richtig auf die Dinge gucken, ihnen Gewalt antun sozusagen, weil sie sie im Text ständig als Beleg für etwas anderes missbrauchen.“

Auch der Vermutung, dass ihn seine Zurückhaltung zum Flaneur mache, will er nicht zustimmen. „Das ist ja erstmal diese klassische literarische Figur des 19. Jahrhunderts, der Typ, der seine Schildkröte spazieren führt. Benjamin hatte anhand von Baudelaire und Poe über den Flaneur geschrieben und dann eben noch die kleinen Texte über die Berliner Kindheit. Seitdem bezieht sich jeder darauf, obwohl die städtische Erfahrung eine ganz andere ist.“ Mangels Schildkröten? „Wenn ich in meiner Kreuzberger Gegend rausgehe“, fährt Kuhlbrodt fort, „sehe ich vereinzelte Gestalten, ein paar Geschäfte, aber keine Menschenmassen. Im Gegensatz zur Zeit Benjamins oder verglichen mit Paris oder London ist Berlin ja leer. Außerdem fahre ich auch mehr Fahrrad, als dass ich zu Fuß gehe.“

Immer wieder fällt in Kuhlbrodts Erzählfragmenten auf verstörende Weise das Private ein. Etwa wenn Kuhlbrodt plötzlich und anlasslos an seinen Vater denken muss, „der weniger geworden war, nachdem sie ihn aufgeschnitten hatten“. Er empfindet solche Selbstoffenbarungen schon als heikel, hat sie aber dennoch stehen lassen. „Man überlegt sich lange, darf man das schreiben, ist das nicht zu privat oder verletzt Gefühle von anderen. Aber es werden dauernd Leute aufgeschnitten und operiert. Sie liegen dann in dieser seltsam privaten Öffentlichkeit der Krankenhäuser in Betten nebeneinander, ohne sich vorher zu kennen.“ Als die Mutter kommt, irrt sie durch die Flure, um ihren Mann zu suchen, den sie dann auch zufällig „findet“. Wie etwas, das liegengelassen wurde.

Sein Vater hat sich vor anderthalb Jahren das Leben genommen. Auch das hat Kuhlbrodt nicht verheimlicht. „Selbstmord ist eine der häufigsten Todesursachen bei alten Menschen. Wer als Autor über den Tod sprechen will, spricht im Allgemeinen nicht in der ersten Person – außer wenn der Tote berühmt war –, sondern macht ein Interview mit jemand anderem,“ meint er im Gespräch.

Kuhlbrodt beschränkt sich in seinem Buch auf einen Halbsatz über seinen Vater. Zu wenig, um den Vorgang und alles, was ihn berührt, rational zu erfassen. Aber es berührt einen doch – weil es so kurz und unvermittelt geschieht.

Die Heimsuchung, die ja immer unangekündigt und urplötzlich geschieht, lässt sich in Kuhlbrodts Texten lesend nachvollziehen. Er, der Beobachter, versucht Leben lesbar zu machen. Und manchmal zeigt er einem dabei auch, wie man das Leben liest.

„Morgens leicht, später laut“ von Detlef Kuhlbrodt erscheint im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2007. 126. Seiten, 7,50 Euro. Der Autor liest am 7. November im taz-Café, 20 Uhr 30 (Rudi-Dutschke-Str. 23, Kreuzberg).

Frank Schäfer

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