zum Hauptinhalt
Juliette Jouan in „Die Purpursegel“, Regie: Pietro Marcello

© Piffl Medien

Das magische Historiendrama „Die Purpursegel“ : Märchen vom Kriegsheimkehrer und seiner Tochter

Ein Film wie ein flämisches Genrebild - und eine Hommage an das französische Kino: Der italienische Regisseur Pietro Marcello verteidigt in seinem dritten Spielfilm die Rechtlosen.

Die halbblinde Alte, die wie eine Hexe am Bach hockt (Yolande Moreau), prophezeit Juliette, dass ein Schiff mit Purpursegeln sie eines Tages davontragen wird. Eine Märchenszene, eingebunden in eine alles andere als märchenhafte Welt, irgendwo auf dem Land in der Picardie nach dem Ersten Weltkrieg. Die Bauern und Handwerker tragen verschlissene Kleidung und markante Physiognomien, die Gegend ist rau, das Leben hart.

Juliette wächst auf einem Hof außerhalb des Dorfs auf. Mit ihrem Vater Raphaël, der patenten Matriarchin Adeline (Noémie Lvovsky), die ihren Mann verloren hat, einem Schmied und seiner kleinen Familie. Eine Gemeinschaft der Ausgestoßenen: Juliettes Mutter ist gestorben, kaum dass Juliette geboren war, keines natürlichen Todes, wie Raphaël erfahren muss, als er zu Beginn des Films aus dem Krieg heimkehrt.

Dieser wortkarge Drechsler (Raphaël Thiéry) mit seinen fleischigen, schrundigen Händen, behäbigem, humpelndem Schritt, schwerem Atem und kleinen Augen im bärtigen Gesicht bildet zunächst das Zentrum des Films. Ein Kraftfeld, wie der Titelheld in Marcellos Jack-London-Adaption „Martin Eden“, nur stiller, einzelgängerischer. Ein Außenseiter: Die Gespräche in der Dorfkneipe verstummen, wenn Raphaël eintritt.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Und doch ist er anders. Spielt melancholische Weisen auf seinem kleinen Akkordeon, weiß wunderbar, mit Holz umzugehen, verdingt sich bei den Schiffsbauern, schnitzt feines Kinderspielzeug aus groben Scheiten, repariert und stimmt das Klavier in der Scheune. Sorgsam und scheu umhegt er seine kleine Tochter, schenkt ihr eine behütete Kindheit in unwirtlicher Umgebung.

„Wir können sogenannte Wunder mit unseren eigenen Händen vollbringen“, ein Satz des russischen Schriftstellers Alexander Grin ist dem Film als Motto vorangestellt. Von ihm stammt auch die phantastische Erzählung, eine Feerie aus dem Jahr 1923, die Marcello mit zwei weiteren Drehbuchautor:innen lose adaptiert hat.

Italienischer Neorealismus in Nordfrankreich, mit eigenwilligen Vorzeichen. Pietro Marcello kreiert in seinem dritten Spielfilm eine Atmosphäre zwischen Sozialstudie, Historienfilm, Musical, magischem Realismus und Fantasy, kreuzt kolorierte Archivaufnahmen aus jener Zeit mit grobkörniger 16-Millimeter-Textur und will „Die Purpursegel“ zudem als Hommage an das französische Kino verstanden wissen. Man denkt an Renoir, Bresson und die Musicalfilme von Jacques Demy, aber eben auch an Pasolini.

Vor der mal zärtlich, mal fast unwirsch sich den Gesichtern nähernden Kamera von Marco Graziaplena singt Juliette Jouan, die Darstellerin der herangewachsenen Juliette, selbst ersonnene Chansons (Musik: Gabriel Yared). Der zweite Teil des Films ist leichter, heller und eben märchenhafter angelegt ist, spätestens wenn Juliettes Traumprinz buchstäblich vom Himmel fällt. Der hübsche Jean, ein Hallodri und Glücksspieler (Louis Garrel), muss mit einem klapprigen Propellerflugzeug notlanden – Beginn einer Romanze auf den ersten Blick.   

Gleichzeitig bleibt das Augenmerk auf die Stärke und die Nöte der Frauen gerichtet, auf ihren Pragmatismus, ihre Zähigkeit, ihren Freisinn – bei ihren Streifzügen durch die Felder liest Juliette Gedichte der Anarchistin Louise Michel – sowie ihr Ausgesetztsein in einer Männerwelt, die sich nach Belieben an ihnen vergreift. Juliettes Mutter Marie wurde Opfer einer Vergewaltigung, wie sich herausstellt.

Scheue, innige Beziehung: Juliette Jouan und Raphaël Thiéry als Tochter und Vater.

© Piffl Medien

Aber nicht der Täter wird im Dorf geächtet, sondern Menschen wie Raphaël, der die Dörfler an ihre Verbrechen erinnert. Brutalität und Solidarität liegen in dieser agrarischen, von Not geprägten Gemeinschaft nahe beieinander. Auch Juliette muss sich mancher Übergriffe erwehren.

Allen Kitschszenen, Fantasy-Motiven und magischen Momenten zum Trotz bleibt „Die Purpursegel“ dennoch geerdet, wegen der dokumentarischen Anmutung der Bilder und der Aufmerksamkeit für die Veränderung der Arbeitswelt, die sozialen und ökonomischen Koordinaten. In der Stadt ist Raphaels Holzspielzeug irgendwann nicht mehr gefragt, die Kinder mögen es jetzt lieber elektrisch. Hinzu kommt die Sinnlichkeit, die Intensität der Bilder. Sie riechen förmlich nach Ackerkrume, Holzspänen, verblühten Feldblumen, Meeresnähe.

Ein Film wie ein flämisches Genrebild, ein fragmentarisches Kammerspiel unter weitem Himmel: Pietro Marcello verteidigt die Rechtlosen. Raphaël rettet posthum die Würde seiner geliebten Marie, und Juliettes Coming-of-Age mündet in einen zauberischen Tagtraum von Happy-End. Ach, warum eigentlich nicht: Das Leben ist wie gesagt hart genug.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false