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Kultur: Das Meer peitschen

Kultur kennt Katastrophen, die Natur nicht. Nach der Flut der Worte und der Bilder

Bilder haben sich eingebrannt. Ungeheuer viele Worte sind gesagt. So folgte der ersten, Leben vernichtenden Flut die zweite Flut der Medien. Wir mussten hinsehen und zuhören, wir konnten nicht anders. Wir wussten, dass Worte und Bilder an die Schrecken und das Leiden der Betroffenen nicht heranreichen. Die eigene Hilflosigkeit wehrte man mit Gefühlen der Anteilnahme und der Spendenbereitschaft ab. Das ist so. Jede Katastrophe ist heute auch ein Höhepunkt des medialen Overkills. Das kritisieren zu wollen, hieße, unsere Welt abzulehnen.

Die Gefühle, die durch das Gesicht eines verstörten Kindes oder eine Gruppe indischer Frauen bei einem Totenritual ausgelöst wurden, sind das Beste, was wir aufbringen konnten. Mit den Bildern der aufgequollenen Leichen indes kann man nicht fertig werden. Das Entsetzen, der Schrecken, die Panik, die Starre und Niedergeschlagenheit in den Gesichtern der Überlebenden. Und doch, schien es, war man niemals zuvor den Menschen so nah. Man mag das infrage stellen, als Voyeurismus, als ein Mitleid, das nur die andere Seite des Zynismus den armen Ländern gegenüber ist, welche keineswegs zufällig die vermeintlichen Paradiese unserer touristische Träume sind. Und doch zeichnen sich über diese Hilfsbereitschaft hinaus weitere Perspektiven ab.

Die Flutwelle in Südostasien nennen wir eine Naturkatastrophe. Die Natur indes kennt keine Katastrophen. Was in ihr auch geschehen mag – Erdbeben, Vulkanausbrüche, Sintfluten, Einschläge von Großmeteoriten – , es sind zwar statistisch seltene, immer aber solche der Ordnung der Natur. Diese Natur enthält keinen Sinn, sie ist kein Idyll, kein Paradies, kein Heilsversprechen. Wie man früher sagte, dass es derselbe Gott ist, der gibt und der nimmt, so ist es dieselbe Natur, die das Leben hervorbringt und auslöscht. In der Gabe des nackten Lebens ist so wenig Sinn wie im Tod.

Das Wissen darum gehört zur condition humaine der Moderne. Nichts tröstet, nichts straft. Wir sind allein. Wir haben zwar Mitmenschen, aber keine Mit-Natur, auch wenn wir von der Natur abhängen und deren Teil bleiben, so hoch entwickelt die Kultur auch sein mag. Kultur ist nicht zuletzt ein Abwehrmechanismus, eine Grenzziehung: zwischen dem empfindlichen Gebilde des Überlebens und einer unverfügbaren Natur. Kultur bedeutet auch: Allianzen zu bilden, wie wir dies zwecks Nahrungserwerb seit jeher tun.

Katastrophen sind also Ereignisse, in denen die Natur ihre kulturabgewandte Seite zerstörend hervorkehrt. Dann brechen alle Grenzen, alle Bollwerke, alle Vorkehrungen, alle Sicherungskordons zusammen. Und der Tod, der zur Natur gehört wie das Leben, hält seine Ernte. Um in und mit der Natur leben zu können, brauchen wir Distanz. Katastrophen sind kollektive Ereignisse radikalen Distanzverlusts, in dem sich keine Botschaft, kein Sinn mitteilt. So sagte ein Fischer aus Sri Lanka, der Familie, Haus und Boot verloren hatte, er könne dem Meer nicht böse sein. Das Meer handelt nicht, es geschieht. Dieser Fischer hat von unserem Stand in der Natur mehr begriffen als der persische König Darius, der das Meer auspeitschen ließ.

Kultur benötigt ein vorsichtiges, umsichtiges Verhalten zur Natur, die zwar Leben erzeugt, nicht aber Kultur. Das Leben der Tiere und Pflanzen und erst recht das unsrige ist innerhalb des toten Weltalls von äußerster Seltenheit, ein unwahrscheinlicher Fall der kosmischen Evolution. Kultur ist in ihr eigentlich nicht vorgesehen. Das macht den empfindlichen Status der Kultur in der Welt aus. Wir müssen äußerste Klugheit darauf verwenden, ein Auskommen mit und gegen die Natur zu finden. Stattdessen leben wir aber, als hätten wir eine zweite Welt in Reserve. Konsequenzen aus der Flutkatastrophe zu ziehen, hieße: die Kulturen besser auf die natürlichen Bedingungen einzustellen, sie wirkungsvoller zu schützen und schonendere Techniken des notwendigen Stoffwechsels mit der Natur zu entwickeln.

Wir haben lernen müssen, dass die Art unserer Besiedelung des Erdraums – mit Ballungsgebieten in gefährdeten Regionen wie Neapel oder Bangladesh – und die Eingriffe in die Biosphäre der Erde die Auswirkungen so genannter Naturkatastrophen verstärken, wenn nicht sogar mitverursachen können. Doch haben diese Einsichten nicht die erforderlichen geopolitischen und technologischen Konsequenzen nach sich gezogen.

Ein Mittel der kulturellen Distanzierung ist die Sprache: eine Erfindung, um zwischen uns und die Macht der Dinge eine Zwischenschicht einzuziehen, die Erinnerung, Übersicht, Planung, Verabredung erlaubt. Auch das Vermögen, Bilder zu machen, dient diesem Ziel: Sie stellen Dinge vor Augen, ohne dass sie uns tatsächlich berühren. So erlauben Bilder eine eigenartige Distanzierung und Reflexion der mächtig andrängenden Dinge. Nun ist dieFlutkatastrophe aber – ähnlich wie der 11. September – ein Ereignis, das sprachlos und bilderlos werden lässt. Die Unsicherheit, ob die Medien dem Ereignis angemessen sind und die grausigen Bilder womöglich ein Sakrileg darstellen – diese Empfindlichkeit ist ein Reflex darauf, dass etwas geschehen ist, das eigentlich nur die stummen Reflexe des Schmerzes und das Dunkel der verschlossenen Augen erlaubt. Das ebenso sinnlose wie gewaltsame Ereignis der Flut markiert die Grenzen von Sprache und Bildern. Wir sehen uns mit etwas Außermenschlichem konfrontiert, mit einer übermächtigen Dimension des Lebens.

Weil wir aber Menschen sind und leben müssen im Verlust der Stimmen und Bilder derer, die untergegangen sind, können wir nicht anders, als mit dem Reden zu beginnen und Bilder zu machen. Wohl wissend, dass Worte und Bilder an dieses Ereignis nicht heranreichen. Das ist die schwierige, unlösbare Aufgabe der Medien: die Sprache wiederzufinden und Bilder zu machen. Das kann nicht gut gehen. Aber es ist in postkatastrophischen Situationen notwendig.

Und der bedeutendste Teil der großen Kunst ist eine Geburt aus den traumatischen Erfahrungen der Katastrophe. Zwar wäre es unsinnig, vom Fernsehen und den Zeitungen zu verlangen, dass sie heutige Katastrophen auf dem Niveau des Gilgamesch-Epos, der Homerischen Odyssee, von Dantes Inferno oder Melvilles „Moby Dick“ bewältigen. Dennoch erbringen die Medien hier auch eine stellvertretende Leistung: Sie nehmen den Faden der Sprache, die es uns verschlagen hat, wieder auf. Sie geben zwischen der Sprache und den Bildern jenen Gefühlen Raum, die das anteilnehmende Handeln auslösen.

Der Autor lehrt Kulturtheorie an der Humboldt-Universität Berlin.

Hartmut Böhme

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