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Irgendwie organisch. Szenenbild aus "Das Nacktschnecken-Game".

© david baltzer / bildbuehne.de

„Das Nacktschnecken-Game“ am Grips Theater: Führung durch die Feuchtgebiete

Aufklärung in Zeiten von Netflix: „Das Nacktschnecken-Game“ am Grips Theater gelangt über den Dr.-Sommer-Kosmos hinaus.

Gar nicht so lange her, da ließen sich mit Aufklärungstheater noch die schönsten Skandale lostreten. Da gingen fromme Professoren auf die Barrikaden und warnten vor der verderblichen Ferkelei, da wurden Aufführungen aus Schulen verbannt, als ginge es darum, ganze Klassen zum Rudelbums zu verführen. Das Berliner Theater Rote Grütze („Darüber spricht man nicht“) könnte ein Lied davon singen, eine munter versaute Provo- Hymne der 70er Jahre.

Das ist natürlich alles anders heute. Mittlerweile sind alle mega-aufgeklärt, grenzenlos liberal (solange nicht die Kastrationsängste ob der Einführung eines dritten Geschlechts überborden, aber das ist ein anderes Thema) und chillen bei Netflix, statt sich über die Größe primärer Geschlechtsorgane zu sorgen. Okay, stopp, ganz so einfach ist die Sache vielleicht doch nicht. Es kann ja kein Zufall sein, dass kurz nach dem Theater Strahl („Genau wie immer: Alles anders“) nun auch das Grips Theater mit einem Pubertäts-Spiel für die Gegenwart herauskommt. Offensichtlich hat doch jede Generation ihren eigenen Redebedarf. Und anscheinend gehört zur Aufklärung doch mehr als nur sachdienlicher Sexualkunde-Unterricht.

Vom Klo in ein Adventure-Game

Genau den schwänzen die vier Protagonistinnen und Protagonisten im Stück „Das Nacktschnecken-Game“ der großartigen Autorin Kirsten Fuchs, die fürs Grips unter anderem schon „Alle außer das Einhorn“ und „Das Heimatkleid“ geschrieben hat. Pärchenweise finden sich die Jugendlichen hier eingangs auf der Schultoilette ein. Selma (Katja Hiller) und Edgar (Marius Lamprecht) wollen Knutschen, was sich in der Klo-Enge zwischen Schwanz-Zeichnungen wenig romantisch gestaltet. Anni (Lisa Klabunde) und Junis (Jens Mondalski) probieren heimlich Yum-Yum-Nudeln, offensichtlich die Vorstufe zum Kiffen heute.

Unversehens werden die Vier allerdings aus der Heimeligkeit des stillen Örtchens herauskatapultiert – mitten hinein in ein Adventure-Game! In futuristischen Avatar-Kostümen, zwischen kokonartigen, beleuchtbaren Säcken, die von der Decke baumeln und allerlei organische Assoziationen zulassen (Bühne und Kostüme: Lea Kissing) müssen die Jugendlichen verschiedene Coming-of-Age-Level überwinden. Das Setting des Spiels (von einer hämischen Leiterin mit der Stimme von Alexander Merbeth aus dem Off erklärt): die Mädchen und Jungs befinden sich im Inneren einer Nacktschnecke. Und müssen unter anderem herausfinden, wie sich diese glitschigen Viecher fortpflanzen. Igitt! Ist nicht überhaupt, auch jenseits des Tierreichs, alles irgendwie eklig, was mit Körperflüssigkeiten, Schleimhäuten und anderen Feuchtgebieten zu tun hat?

Grenzen setzen, Nein sagen können

Das Game gibt den Spielern Gelegenheit, untereinander verschiedene „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“-Varianten zu erproben, in aller pubertären Unschuld („Warum bekommen Frauen eigentlich so oft deine Tage?“, „Hast du Gebüsch am Turm?“). Wobei die Regisseurin Maria Lilith Umbach (Mitglied des Kollektivs cobratheater.cobra und am Grips zuvor mit der tollen Arbeit „Nasser #7 Leben“ aufgefallen) sie mit unverkrampfter Entdeckungslust und feinem Humor leitet.

Autorin Kirsten Fuchs wiederum gelangt über den virtuellen Ritt mit der Nacktschnecke zu Themen, die über den Dr.-Sommer-Kosmos hinaus das Miteinander der Geschlechter bedingen: Grenzen setzen. Nein sagen können. Respekt zeigen. Anders als die Vertreter der quer durch die Jahrhunderte wütenden Misogynie, die Kirsten Fuchs herbeizitiert, von Thomas von Aquin („Mädchen entstehen durch schadhaften Samen oder feuchte Winde“) bis zu Heidi Klum („Ich will nichts schwabbeln sehen“). Behaupte bloß niemand, es gebe heute keinen Aufklärungsbedarf mehr.

nächste Vorstellung am 1. April, weitere im Mai und Juni

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