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Kultur: Das neue Reich der Mitte

Ein Rundgang durch Berlins Galerienquartier entlang der Kochstraße

Fünfzehn Jahre harrte der Galerist Thomas Schulte in der Mommsenstraße aus und sah seinen Kollegen dabei zu, wie sie einer nach dem anderen von Charlottenburg nach Mitte zogen, schien aber selbst gegen derlei Pläne immun zu sein. Dann ging auf einmal alles ganz schnell. Anfang des Jahres war die Immobilie gefunden, im März wurde der Mietvertrag unterschrieben – da blieben dem Architekturbüro Gonzalez / Haase gerade einmal ein paar Wochen, um die 340 Quadratmeter-Galerie im Erdgeschoss des Tuteur-Hauses an der Leipziger / Ecke Charlottenstraße bis zur ersten provisorischen Ausstellung Ende April komplett umzubauen. Zum Art Forum eröffnete die Galerie nun offiziell ihr neues Domizil, und Schulte kann es immer noch nicht ganz glauben. Sagt er. Denn insgeheim weiß er natürlich, dass er bei der Wahl seines Standortes einen echten Coup gelandet hat: Seine Galerie gehört zu den schönsten der Stadt.

Noch vor einigen Monaten hätte kaum jemand darauf gewettet, dass sich ausgerechnet hier etwas Interessantes tut. Auch als André Buchmann letzten Herbst aus Köln in die Charlottenstraße zog, wirkte die Gegend seltsam unbehaust. Buchmann und der schon länger dort ansässige Andreas Osarek – allein zwischen Spielhallen, sozialem Wohnungsbau und Fast-Food-Sushi, während sich nur wenige hundert Meter weiter die Galerien in der Zimmerstraße auf der Sonnenseite der Aufmerksamkeitsskala wähnen durften. Doch schnell ändern sich Verhältnisse in der Kunsttopografie Berlins. Schulte war der Dritte im Bunde, und weitere Gesellschaft ließ nicht lange auf sich warten. Mit Seitz & Partner und Tammen haben zwei alteingesessene Berliner Galeristen am Checkpoint Charly Quartier bezogen, außerdem eröffneten weitere Kölner: die Galerie Isabella Czarnowska (vormals Kacprzak), Rafael Jablonka und Julius Werner, Sohn von Michael Werner, der sich seine Berliner Premiere in den aufwändig renovierten Räumen in der Kochstraße 60 mit dem schwachen Briten Paul Fryer allerdings selbst ein wenig verdorben hat. Das illustre Publikum ließ sich den Eröffnungsabend trotz zur Schau gestelltem naturwissenschaftlichem Hokuspokus mit Blinklichtern, ohrenbetäubendem Lärm und einer schwarzen Plastik-Ophelia im Glassarg nicht verderben.

Andere setzen auf etablierte Namen: André Buchmann präsentiert derzeit John Chamberlain (bis 21. Oktober), während Thomas Schulte mit dem faszinierenden „Shapes Project“ von Allan McCollum glänzt. Damit sprengt der 1944 geborene Konzept-Künstler aus New York lässig alle bekannten Dimensionen. McCollum, der seit jeher auf dem schmalen Grat zwischen Individualität und Masse balanciert, hat in den vergangenen Jahren aus einem einfachen Grundmodul (einem Viertelkreis) ein mathematisch-logisches System von Formen entwickelt, mit dem er gängige Kunstbegriffe um Lichtjahre hinter sich lässt. Es bietet dem Künstler 31 Milliarden Möglichkeiten, sich garantiert nicht zu wiederholen – eine Zahl, die man nicht verstehen wird, selbst wenn man es mit allen Mitteln der Vernunft versucht (Serien von 144 zu 8500 Euro). Dass man daraus auch sehr ansprechende Skulpturen herstellen kann, beweisen die dreißig marmorweißen „Shapes“, die Schulte auf ebenfalls mit McCollums Ordnung konform gehenden Sockeln ausstellt (11 500 bzw. 14 000 Euro, je nach Größe, bis zum 11. November).

Rafael Jablonka bestreitet seinen Einstand in einem Berliner Loft mit Gemälden von Terry Winters, die auf den ersten Blick aussehen, als habe Winters mit Kartoffeldruck experimentiert, beim näheren Studium jedoch eine großartige malerische Qualität offenbaren (Preise auf Anfrage, bis 25. November). Die Gründe für den Umzug des Galeristen-Schwergewichts aus dem Rheinland zählen inzwischen zum argumentativen Standard-Repertoire: „Berlin ist eine internationale Stadt, hier kommen die Leute hin“, sagt Jablonka, der in den nächsten Monaten Ausstellungen mit Andy Warhol, Nobuyoshi Araki, Francesco Clemente und Philip Taaffe zeigen will. Gerade von Sammlern aus den USA bekam man in Köln immer häufiger zu hören, dass sie für einen Abstecher ins Rheinland keine Zeit mehr hätten. Und auch die Künstler drängen zunehmend darauf, in Berlin präsent zu sein. „Ausstellungen müssen gesehen werden“, sagt Jablonka, „und das war in Köln in letzter Zeit nicht mehr der Fall.“

Aus Rücksicht auf seine Familie bleibt Jablonka weiterhin in Köln wohnen und pendelt nach Berlin. In der Galerie beschäftigt er zwei Mitarbeiter, den Rest des Tagesgeschäfts erledigt das Kölner Büro. „Es ist ein Sprung ins kalte Wasser“, glaubt Jablonka und macht nicht gerade einen euphorischen Eindruck. Aber vielleicht ist das sogar der bemerkenswerteste Aspekt: Früher zogen die nach Berlin, die das wirklich wollten. Wer es heute tut, kommt, weil er es sich nicht mehr leisten kann, nicht hier zu sein.

Ulrich Clewing

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