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Kultur: Das Papier oder ich

Jacques Derrida, Philosoph. Flüchtige Notiz bei der Nachricht seines Todes / Von Hanns Zischler

Frühe Bilder. Der da spricht, spricht anders als die andern. Seine Rede ist schmiegsam, still, wie Rauch, unvermutet innehaltend, behende vorwärts drängend, tastend, stockend, suchend, sie sinkt zum Murmeln herab, wie Wasser kreiselnd und sich selbst verschlingend, schwebt durch den Raum und sickert in unsere Ohren. Die Fundamente der autoritativen Rede sind unversehens geschleift, wie weggeweht, der mündliche Vortrag signalisiert mit seinen unerwarteten kleinen Akuten und Akzenten eine Wende, er will anders, diskret vernommen werden, das Zuhören wird zur unvergesslichen Zumutung.

Jacques Derrida, der am Sonnabend verstorbene französische Philosoph (Nachruf in der Sonntagsausgabe des Tagesspiegels), hat (mich) zuhören gelehrt. Ich hatte ihn gehört, ihm zugehört, als er über Mallarmé sprach, über Celan, über Platon, und seine Stimme lag für mich wie ein unlösbarer akustischer Untertitel über seinen Texten, von Anfang an. Sie begleitet mich, bis heute, seit ich ihn 1969 zum ersten Mal gehört habe als Gast von Peter Szondi im Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Und dann, als er in dem verwaisten Haus am Dahlemer Kiebitzweg mit einer zum Flüstern gesenkten Stimme des Todes von Szondi gedachte.

„Ein Gedicht läuft immer Gefahr, sinnlos zu sein, ohne dieses Risiko wäre es nichts.“ Wenn man, wie es mir geschehen ist, diesen Satz mit Anfang zwanzig liest – Rodolphe Gasché, sein Freund und Interpret hatte mich darauf gestoßen -, ist es mit den Gewissheiten (der Logik, der Auslegung) vorbei. Hinzu kommt, dass Jacques Derrida dies über einen Dichter und ein Buch sagt, die ich weder dem Namen noch dem Titel nach kannte: Edmond Jabès und „ Das Buch der Fragen“. Ganz unerhört auch und neu, nie zuvor so gesehen und gelesen auch die Art, wie Derrida fortlaufend den Text von Jabès souffliert, seine Stimme, seine Schrift wie einen sanften Blasebalg über das große Gedicht streichen lässt und es für uns zum Glühen bringt. Jacques Derrida hat (mich) lesen gelehrt.

Eine immense Herausforderung und auch vermessen – von Szondi leicht beargwöhnt, von seinem Assistenten Sam Weber ermutigt – das große Abenteuer, auf das ich mich zusammen mit Hans-Jörg Rheinberger einließ: die Übersetzung der „Grammatologie“. Und ohne Rheinbergers festeren Blick aufs Ziel wären wir daran gescheitert. Ein Ritt, fast über den Bodensee. Nie haben wir mehr über den seltsamen Zustand erfahren, von der Sprache entführt zu werden, eben nicht ihr Herr zu sein und einfach über sie zu verfügen. Stattdessen den Resonanzraum der Sprache auszuhorchen, sich ihm auszusetzen, den Wörtern nachzuspüren wie ein Blinder dem Relief eines Weges. Lehrstunden über die Philologie der philosophischen Begriffe. Diese Erkenntnis ist geblieben. Jabès und Ponge und Artaud hat er mir nahe gebracht und unverloren gemacht.

Wie Derrida zu ergreifen vermag, konnte ich erleben, als der junge Philosoph Werner Hamacher in einem Augenblick höchster Geistesgegenwart vor laufender Kamera, ganz im Gestus und Geist Derridas, eine rhapsodische Auslegung des Satzes, ja der Wörter des Satzes von Kafka improvisierte: „Schreiben ist die Illuminierung eines Leichnams“.

Über die Jahre, mehr aus der Ferne, habe ich die ungeheuer produktive Entgrenzung seiner Rede – in den Interviews – und seines Schreibens staunend verfolgt. Und gleichzeitig, vor allem in den letzten Jahren, sein immer dringlicher werdendes, intervenierendes politisches Reden, immer eingedenk der Grundlagen des Politischen: der Forderung nach der unverzichtbaren Anerkennung der Andersartigkeit des Anderen.

Babylonisch der zwischen dem Französischen und Englischen und noch etlichen anderen Sprachen oszillierende Exzess, die voice over eines Ghostwriters: „Ulysse gramophone“. Die kleinsten Partikel, das scheinbar hingeworfene oder entschlüpfte Wort waren wert befragt zu werden. Diese Lust und dieser Drang, vor den scheinbaren unverrückbaren Evidenzen des „Wörtlichen“ nicht Halt zu machen. Wie jene Kritzeleien, die ein gedankenverlorener Augenblick entstehen lässt. Erste Andeutungen dieser immer weiter um sich greifenden Ausschweifungen habe ich zusammen mit Peter Krumme in Derridas schreibverhextem Essay „Scribble“, über den frühen Hieroglyphendeuter Warburton, beim Übersetzen kennen lernen können.

Spätere Bilder. Ein dämmriger Oktobernachmittag Anfang der achtziger Jahre in seinem Büro in der rue d’Ulm. Die „Carte Postale“, dieser größte, je von einem Philosophen geschriebene Liebesleidenschaftsroman liegt auf dem Tisch. Ich versuche, den inneren Aufruhr, den Furor, den dieser Text in mir entfacht hat, im Zaum zu halten. Ich möchte ihm sagen und doch auch wieder nicht, wie sehr mich dieser unglaubliche „Seitensprung“ – abseits vom Weg des traditionellen Philosophierens – ergriffen hat. Doch habe ich das Gefühl, es sei unschicklich, so zu reden. Schließlich frage ich ihn, wie viel Kraft es ihn gekostet habe, sich in diesen „Envois“ – so der andere Titel – in diesen „Sendungen“, dieser „Rohrpost“ derart leidenschaftlich zu äußern, aus sich herauszugehen. „Was hätte ich anders schreiben sollen?“, fragt er zurück.

Jahre später wird er in „Feu la cendre“ sagen: „Sie könnten die „Envois“, wenn das Herz dies Ihnen eingibt, als die Überreste einer kürzlich zerstörten Korrespondenz betrachten“. Rückfragen als die weiter reichende Antwort. Und er fragt, fragt nach, zeigt sich erfreut, dass Jabès’ „Buch der Fragen“ jetzt auch auf Deutsch – in der makellosen Übertragung von Henriette Beese – erschienen ist, fragt nach den Lesern. Und wundert sich wohl auch ein bisschen, dass ich den Faden zu seinen Lektüren noch nicht verloren habe und will mit sanfter Insistenz dann doch sehr genau und offenbar aus mehr als bloßer Höflichkeit wissen, was für mich der Augenblick vor der Kamera sei. Ich werde fast verlegen, weil ich nicht erwartet hatte, dass er sich für dieses Metier interessieren könnte. Als ich mich verabschiede, hat die Dunkelheit das Zimmer ganz erfüllt. Unsere Stimmen sind sehr leise geworden.

Eher spät nähert er sich Kafka, doch seine Lektüre von „Vor dem Gesetz“ geht weit über das hinaus, was die traditionelle Exegese davon wahrhaben wollte. Sie sind vom gleichen Rang wie Benjamins Betrachtungen der Vorwelt, die dieser in Kafkas Texten gebannt sah. Derrida entschlüsselt den nomothetischen Anspruch Kafkas an die (deutsche) Literatur. Meinen brieflichen Hinweis auf einen späten Brief Kafkas, in dem er die Lage des jüdischen Schriftstellers um 1900 in ein unheimliches Bild fasste - „mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden“ - greift er auf und inseriert ihn in den größeren Rahmen einer deutschen Sprache nichtdeutscher Schriftsteller.

Letzte Bilder. Vor etwa zwei Jahren eine Veranstaltung in Paris, eine Soirée zu Ehren von Jean-Luc Nancys Buch „L’Intrus“ (dt. „Der Eindringling“), in dem der Philosoph und Weggefährte über den zweifachen Kampf gegen den Krebs und das implantierte Herz reflektiert. Dann breitet Derrida seine Lektüre Nancys aus. Unvermutet stellt sich die Szene einer anatomischen Vorlesung ein, doch sind es die Bücher selbst, die den zu examinierenden Körper bilden. Eine stille Feier der Rekonvaleszenz.

Beim Blättern vor Jahren aufgelesen, einmal nur gelesen, fast wieder vergessen, übersehen, erinnert und glücklich wieder gefunden, in dem Gespräch „Le papier ou moi, vous savez...“: „Auch ich leide bis zum Ersticken unter einem Zuviel an Papier, das ist ein weiterer Spleen. Ein weiterer ökologischer Seufzer. Wie die Welt vor dem Papier retten? Und seinen eigenen Körper? Ich träume also auch davon, ohne Papier zu leben – und das dröhnt mir manchmal in den Ohren wie eine Definition des „wahren Lebens“, des lebendigen Lebens.“

Er ist verstummt. Seine lebendige, belebende, unerschrockene Rede, die mit nachdrücklicher Sanftheit, fragend, in Frage stellend unser Denken, unsere Lektüre, unsere Aufmerksamkeit in ungeahnte, ungesicherte Gegenden lenken konnte, dringt nicht mehr an unser Ohr. Fortleben wird er, wenn wir ihn lesen und wieder lesen.

Der Autor lebt als Schauspieler und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Band „Borges im Kino“ (Rowohlt).

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