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Kultur: Das Reprint des "Philo-Atlas" von 1938 dokumentiert die Situation deutsch-jüdischer Auswanderer

Manchmal überläuft einen ein Schauder, wenn man durch die Lektüre von Originaldokumenten in eine andere Zeit hineingeworfen wird. Wenn ein historischer Moment in seiner Tragik von weitem und nah berührt.

Manchmal überläuft einen ein Schauder, wenn man durch die Lektüre von Originaldokumenten in eine andere Zeit hineingeworfen wird. Wenn ein historischer Moment in seiner Tragik von weitem und nah berührt. Solch ein Dokument ist der wieder aufgelegte Philo-Atlas. 1938 im Philo-Verlag des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) erschienen, handelt es sich eigentlich um ein Handbuch der jüdischen Emigration. Mit Sondergenehmigung zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als das jüdische Verlagswesen schon verboten war, die Nazis aber noch an der Auswanderung der Juden interessiert waren, ist es sowohl ein Dokument der Demütigung als auch der Selbstbehauptung des deutschen Judentums. Der C.V. war diejenige Vereinigung, die assimilierte Juden versammelte, welche an eine "unauflösliche Verbindung von Deutschtum und Judentum glaubten" und zumeist dem nationalliberalen oder konservativen Lager zuzurechnen waren. Hatte die Zeitung des Centralvereins nach der Machtergreifung Hitlers 1933 noch "Haltung!" getitelt und auf das Heimatrecht der deutschen Juden gepocht, änderte sich mit den Nürnberger Rassegesetzen 1935 die Tendenz der Publikationen im Philo-Verlag, der 1919 zur Abwehr antisemitischer Anschuldigungen geründet worden war. Zunächst zaghaft wurde die Auswanderung propagiert, ja sogar zionistische Töne klangen an - wo doch der C.V., immer den Glaubenscharakter des Judentums gegenüber dem Volkscharakter betont hatte.

Und jetzt also der Schlusspunkt: Ein Handbuch zur Auswanderung, mit Informationen von den ABC-Staaten bis Zypern - über Maßeinheiten, Visabestimmungen, Reichsfluchtsteuer, Affidavits. Das patriotische, deutschnationale jüdische Bürgertum musste vor den Realitäten seiner Zeit, den Schlägertrupps der Reichspogromnacht, kapitulieren, die Juden zum Verlassen der geliebten Heimat auffordern. Was zunächst erscheint wie ein trockenes Lexikon, ist mehr: Eine Übersicht des jüdischen Kosmos zu einer Zeit, in der sich vor den Konsulaten der Welt Warteschlangen bildeten und Familien von den Kosten für Steuern, Schiffspassage, Visa in den Ruin getrieben wurden. Wenn sie überhaupt ein Visum bekamen, noch genug übrig hatten für die Überfahrt. Die Verzweiflung einer solchen Lebensentscheidung tritt vor Augen, die geschlossenen Tore der Welt, die Überlebensfragen.

Der Philo-Atlas zeigt das Ausmaß der jüdischen Philantropie, aber auch die Würde der deutsch-jüdischen Kultur, die an ihren Grundsätzen festhält. Analyse und Wissenschaftlichkeit stehen gegen den Irrationalismus der Nazis, nicht mal im Vorwort erlaubt sich der damalige Herausgeber Ernst G. Löwenthal Larmoyanz, höchstens die ironische Bemerkung, es handele sich um "ein ausgesprochen zeitbedingtes jüdisches Speziallexikon". Ein Buch ohne subjektive Emphase. Man beginnt selber zu stöbern, sich hineinzuversetzen in die Bedrängnis der Zeit. Wer mehr wissen möchte, sei auf das gut recherchierte Vorwort von Susanne Urban-Fahr verwiesen, die das Lexikon im historischen Kontext verankert.Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung. Reprint. Vorwort von Susanne Urban-Fahr. Philo Verlag. 284 S. , 48 DM.

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