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Kultur: Das Runde muss ins Eckige

Berlin bekommt zur WM ein Fernsehmuseum. Die erste Ausstellung wird dem Fußball gewidmet sein

Ein Spiel, so lautet Sepp Herbergers eherne Fußballweisheit, dauert 90 Minuten. Der Satz, der noch aus der Ära der Wochenschauen und Brillantinefrisuren stammt, wurde von der Wirklichkeit inzwischen überholt. Große Fußballspiele besitzen, wie andere herausragende Kulturleistungen auch, Ewigkeitswert. Das Weltmeisterschaftsendspiel zwischen England und Deutschland wurde zwar vor fast vierzig Jahren abgepfiffen. Vorbei aber ist es noch lange nicht. „Ich habe gesehen, wie der Ball im Netz zappelte“, sagte Bundespräsident Heinrich Lübke 1966 und machte sich damit unbeliebt. Ob der Schuss zum 3:2 tatsächlich die Torlinie überschritt, darüber wird bis heute heftig gestritten. Im Kollektivgedächtnis der Deutschen sind Szenen aus vielen Spielen gespeichert: Das Foul, bei dem der Bremer Spieler Norbert Siegmann den Oberschenkel des Bielefelders Ewald Lienen aufschlitzte, der Elfmeter, mit dem Andy Brehme Deutschland 1990 zum Weltmeister machte, Thomas Helmers Phantomtor von 1994 aus dem Bayern-Spiel gegen den 1. FC Nürnberg.

Seit der Erfindung der elektronischen Aufzeichnung gehören Fußballspiele zu einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. In Berlin soll sie nun ins Museum kommen: Das neue Fernsehmuseum am Potsdamer Platz wird im nächsten Jahr mit einer Ausstellung eröffnet, die sich der medialen Inszenierung der wichtigsten Nebensache der Welt widmet. Pünktlich zum Start der Fußball-Weltmeisterschaft will die Schau „Tor! Wie Fußball und Fernsehen einander das Leben versprachen“ von einer – so Kurator Torsten Körner – „Liebesgeschichte“ erzählen, die nun schon seit mehr als einem halben Jahrhundert anhält.

Gezeigt werden soll, wie die Bilder des Fußballs das Fernsehen und die Bilder des Fernsehens den Fußball verändert haben. Zu sehen sein werden neben Devotionalien wie der legendären Torwand des ZDF-„Sportstudios“ vor allem Ausschnitte aus vielen berühmten Spielen. Die vom Deutschen Fußball-Bund und der Weltfußballorganisation Fifa finanziell unterstützte Ausstellung soll Doppelpass spielen, ihre Helden sind neben den Ball-Idolen von Fritz Walter bis Oliver Kahn auch die Reporter-Legenden von Rudi Michel bis Marcel Reif. Kurator Körner hatte schon die Ausstellung zum hundersten Geburtstag von Heinz Rühmann im Filmmuseum organisiert, zuletzt veröffentlichte er eine Franz-Beckenbauer-Biografie (Der freie Mann, Scherz Verlag). Für die Fußball-Schau, die Ende April 2006 beginnen soll, konnte er einen prominenten Schirmherren gewinnen: Franz Beckenbauer.

Mit der Eröffnung des Fernsehmuseums als Abteilung der Stiftung Deutsche Kinemathek kommt eine zwanzigjährige Planungsgeschichte an ihr glückliches Ende. Das Sony-Center, in dem bereits das Filmmuseum, das Kino Arsenal, die Freunde der Deutschen Kinemathek und die Deutsche Film- und Fernsehakademie untergebracht sind, wird damit zum „House of Moving Images“ komplettiert. Schon in den Achtzigerjahren hatte sich der Filmemacher Eberhard Fechner („Comedian Harmonists“, „Tadellöser & Wolff“), nachdem einige seiner frühen Arbeiten im NDR-Archiv verloren gegangen waren, für die Einrichtung einer Mediathek eingesetzt, die das Fernsehen nicht mehr bloß als laufendes Programm, sondern als kulturelles Erbe verstehen sollte. Mitte der Neunzigerjahre schien die Verwirklichung von Fechners Idee, für die sich nach dessen Tod der Regisseur Erwin Leiser („Mein Kampf“) und einige Kollegen von der Akademie der Künste stark gemacht hatten, zum Greifen nah. Öffentlich-rechtliche und private Sender sagten finanzielle Hilfe zu, ein Gründungsteam wurde installiert. Dann brach das Medienimperium von Leo Kirch zusammen, Sat 1 und RTL zogen sich aus dem Projekt zurück.

Die Deutsche Mediathek, hochtrabende Vision einiger Fernsehmacher, schien gescheitert, der Ausbau der dafür vorgesehenen Flächen im SonyCenter wurde 1999 gestoppt. Neue Bewegung kam erst in die Sache, als die Senatskanzlei das Filmmuseum fragte, ob es das Projekt übernehmen wolle. „Wir haben ja gesagt, und damit begann die Arbeit“, erinnert sich Museumsdirektor Hans Helmut Prinzler. Ein Großteil der Arbeit bestand darin, in Zeiten knapper werdender öffentlicher Mittel ein tragbares Finanzkonzept zu entwickeln. Das Konzept steht, es ist ein sorgfältig ausbalanciertes kleines Haushaltswunder. Die Mittel zum Ausbau in Höhe von vier Millionen Euro kommen je zur Hälfte aus Lottomitteln des Landes und aus Fördertöpfen der EU, der Bund übernimmt die Miete, und das Unternehmen Veolia (früher: Vivendi), das die Berliner Wasserbetriebe übernommen hatte, stellt vier Millionen Euro für den laufenden Betrieb zur Verfügung. Die öffentlich-rechtlichen Sender versorgen das Museum mit Schätzen aus ihren Archiven. „Wir hoffen, dass die Privatsender bald nachziehen“, sagt Prinzler.

Denn das Museum soll kein Ort werden, an dem Vergangenheit in Vitrinen abgestellt wird, sondern ein Haus der lebendigen interaktiven Kommunikation. Der Gang durch die 1200 Quadratmeter große ständige Ausstellung soll für die Besucher, so der designierte Museumsleiter Peter Paul Kubitz, zu einer „Erinnerungsreise“ werden, deren Verlauf ganz individuell gestaltet werden kann. Begrüßt werden die Besucher von einem „Spiegelsaal“, in dem mit Projektionen ein halbes Jahrhundert Programmgeschichte aufgeblättert wird, von den „Schölermanns“ zur „Lindenstraße“. Der zweite Raum, gestaltet als „Zeittunnel“, erzählt anhand von Texten, Fotos und Dokumenten Fernseh- als Gesellschafts- und Zeitgeschichte. „Geistiger Kern“ (Kubitz) des Museums ist aber die anschließende „Programmgalerie“, in der die Besucher an Monitoren herausragende Sendungen in ganzer Länge sehen können: preisgekrönte Fernsehspiele, „Schimanski“-Tatorte, Durbridge-Straßenfeger, Live-Programme von der Mondlandung oder vom 11. September. Zunächst werden die Museumsgänger aus 500 Sendungen auswählen können, „wir wollen aber möglichst schnell bei 1000, 2000 Angeboten ankommen“, verspricht Prinzler. Vorbild für die interaktive Medien-Bibliothek ist das New Yorker Museum of Television & Radio, dessen Bestände allerdings um ein Vielfaches größer sind.

„Die Leute werden mit großen Gefühlen in dieses Museum kommen, mit einem Sentiment, das seufzt: Ach ja, das war eine Sendung, die ich in meiner Kindheit geguckt habe“, glaubt Kubitz, zu dessen Team sechs weitere Mitarbeiter gehören werden. Das Interesse ist da. Die Ausstellung „Fernsehen macht glücklich“, die das Filmmuseum 2003 zeigte, sahen 30000 Besucher in vier Monaten. Kubitz gerät ins Schwärmen, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Bei seinen Reisen durch deutsche Fernseharchive entdeckte er den Schlager „Zwei heißgeliebte Schwestern, Moskau und Berlin“ aus einer DDR-Show der Fünfziger oder die Sendung „Lied meines Lebens“, in der West-Bürger der Sechzigerjahre in ihren Wohnzimmern singen. „Das ist verdichteter Alltag, wie ihn kein anderes Medium zeigen kann.“ Ausstellen macht glücklich.

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