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© AFP

Theater: Das Versprechen

Europas Theaterpreis in Thessaloniki: Der Film- und Opernregisseur Patrice Chéreau triumphiert. Der 63-jährige Franzose hat dieses Jahr den mit 60.000 Euro und viel Ehre dotierten Hauptpreis davongetragen.

Es kann sehr still zugehen, wenn zwei Welten aufeinanderprallen. Manchmal merken sie es gar nicht und wissen nichts voneinander. In der Liebe wie im immer schneller drehenden Kulturbetrieb.

Ein kleiner historischer Moment bei der Verleihung der Europäischen Theaterpreise in Thessaloniki, man muss ihn festhalten: Anatoli Vassiliev überreicht Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel die Auszeichnung für die „Neuen Realitäten“. Lässt sich ein größerer Gegensatz denken? Zeigt sich in dieser bizarren Konstellation nicht die gesamte Bandbreite eines mächtigen, aber auch mächtig aufgesplitterten Theaterkontinents?

Der stets chaotischen Organisation des „Premio Europa per il Teatro“, wie sich die Veranstaltung offiziell nennt, ist diese bizarre Konstellation zu verdanken. Hier also die drei global operierenden, ständig Ideen produzierenden Performance-Vernetzer von Rimini Protokoll, die das Theater zu einem soziokulturellen Zukunftslabor umbauen – und dort der alte Mann mit dem langen grauen Zopf und dem Bart eines Asketen, dieser mit Mitte Sechzig dann doch noch nicht so uralte, einst hoch berühmte russische Theatermönch. Einst, das war vor 25 Jahren, als Vassiliev mit seinen Pirandello-Inszenierungen das Publikum auch beim Gastspiel in Berlin erschütterte.

Vassiliev besaß, ehe er in Moskau eine Art Theaterkloster gründete und nicht mehr gesehen ward, die Leichtigkeit eines Peter Zadek und die Tiefe eines Klaus Michael Grüber. Aber das sind auch schon wieder Namen aus der Vergangenheit. Zwischen Rimini Protokoll und Anatolij Vassiliev liegt eine Menschengeneration – liegen so viele, weil immer kürzer währende Generationen von Theatermachern, Moden, Entwicklungen.

Sie schütteln sich stumm die Hände, dann ist auch schon der Nächste dran. Rimini Protokoll teilen sich den Preis für „Neue Theaterrealitäten 2008“ (insgesamt 20 000 Euro) mit dem polnischen Regisseur Krzysztof Warlikowski und mit Sasha Waltz. Die Berliner Choreografin konnte wegen einer Erkrankung nicht zu diesem seltsamsten aller Festivals nach Griechenland reisen und bekam – so schräg sind die Statuten – deshalb auch nicht ihr Preisgeld.

Immer wieder kommt die Frage, was es denn auf sich habe mit diesem vielsprachigen Premio/Preis/Award, der in den neunziger Jahren in Taormina gegründet wurde und nun auf Wanderschaft ist. Von Sizilien ging es – nach mehrjähriger Pause – nach Turin, anschließend für zwei Jahre nach Thessaloniki, und 2009 folgt vielleicht Lissabon. Man kann es so erklären: Beim Europäischen Theaterpreis, den die EU mitträgt, handelt es sich um die längste Preisverleihung der Welt, sie dauert mit ihren Symposien, Podien und Aufführungen alles in allem vier Tage. Ein typisch Brüssel-europäischer Schwellkopf. Aber zugleich auch eine luxuriöse Gelegenheit, in aller Ruhe über das Theater und seine Zeit, seine Protagonisten und Probleme nachzudenken.

Selten war das so erhellend wie im nebelverhangenen Thessaloniki, wo sich das melancholische Theo-Angelopoulos-Wetter hartnäckig hielt. Film-Wetter, kein Theaterwetter. Darüber schien die dunkle Sonne des Patrice Chéreau. Der 63-jährige Franzose hat dieses Jahr den mit 60.000 Euro und viel Ehre dotierten Hauptpreis davongetragen; nach Ariane Mnouchkine, Peter Brook, Pina Bausch, Giorgio Strehler, Heiner Müller, Robert Wilson, Michel Piccoli, Harold Pinter. Olympische Namen! Doch gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen Chéreau und seinen Vorgängern. Es ist seine zwiespältige Haltung zum Theater, um genau zu sein: seine Distanz zum Schauspiel. Souverän, gut gelaunt, eloquent in jedem Gespräch, ob auf Französisch, Italienisch, Englisch oder Deutsch geführt, voller Energie, Geist und Witz, so dominierte Patrice Chéreau lässig die Theaterpreis-Tage von Thessaloniki.

Und hat doch vor fünf Jahren zum letzten Mal bei einem Theaterstück Regie geführt, Racines „Phèdre“. Seither immer wieder Oper, „Tristan“ an der Scala, „Aus einem Totenhaus“ in Aix und Wien. Oper – und Film. Man muss Patrice Chéreau als idealtypischen Theatermenschen dieser Zeit betrachten; nicht trotzdem, sondern weil er sich in anderen Medien als dem Schauspiel auslebt. Wenn man die „kleinen“ Preise dieses Jahrgangs danebenstellt, ergibt sich ein ebenso irritierendes wie realistisches Bild vom Theater in Europa. Das Tanztheater der Sasha Waltz, die High-Tech-Installationen von Rimini Protokoll – am ehesten noch kommt Krzysztof Warlikowski der traditionellen Vorstellung vom Theaterregisseur nahe. Der Pole, Jahrgang ’62, verschwand allerdings für einen Abend nach Brüssel, wo er eine Opernpremiere hatte.

Woraus man zweierlei lernen kann. Die internationalen Bühnen funktionieren ähnlich wie die Spitzenligen des europäischen Fußballs, und mit dem alten, engen Theaterbegriff ist nichts mehr zu gewinnen, nie wieder. Und doch, es trifft tief, wenn Chéreau mit seinem melancholischen Charme erklärt: „Im Film kann ich über mich sprechen, über die Welt um mich herum. Im Film kann ich mich zeitgenössisch ausdrücken.“ Im Übrigen, fährt der Bayreuth-Revolutionär von 1976 fort, sei die Oper ja pures Theater, Richard Wagner habe seinen Shakespeare gelesen.

Man weiß es ja. Nur so klar war es nie. Theater existiert inzwischen kaum mehr als einzelnes Ereignis. Theater lebt fort in der Summe von Oper, Schauspiel, Film, Performance und – die Passion des Patrice Chéreau – Literatur. Er nennt es lecture, eine verstörend intensive Form hat er da kultiviert, eine Melange aus (szenischer) Lesung, Monolog und Meditation.

Und sei es zu zweit. Mit der Schauspielerin Dominique Blanc, die seine Phädra war, geht Chéreau im Vassiliko-Theater von Thessaloniki auf die Bühne und liest, spielt, zelebriert einen Text der Marguerite Duras, „La Douleur“. Eine atemraubende Geschichte aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, eine Frau wartet auf die Rückkehr ihres Mannes, den die Nazis ins KZ verschleppt haben. Eine umgekehrte Passionsgeschichte. Der Mann kehrt aus der Hölle wieder, und seine Erholung wird gnadenlos exakt protokolliert, kein quälendes medizinisches Detail ausgelassen. Ein zum Erbarmen harter, humaner Text. Man spürt die Nähe zu Chéreaus Filmen; der tabufreien, radikalen Darstellung von Sexualität („Intimacy“) und dem Besessensein vom kranken, leidenden Körper („Son Frère“).

Mit einem Text von Pierre Guyotat geht Chéreau dann noch ein zweites Mal auf die Bühne, allein, nur mit dem Buch in der Hand. „Coma“: Bericht einer klinischen Depression. Chéreau bewegt sich wie ein Regisseur auf der Probe, bevor die Schauspieler kommen. Oder nachdem sie gegangen sind. Georges Banu, eine der grauen Eminenzen des Europäischen Theaterpreises, meint, diese „Lesungen“ seien das „verführerische Versprechen“ eines künftigen Theaters.

Schön gesagt. Aber auch Rückzug, Abwehr, Schweigen, Künstlereinsamkeit liegt darin. Seltsame Diagnose, dass ausgerechnet das Theatralische im Theater nicht mehr funktioniert. Man überlässt das lieber den Sängern und der Musik in der Oper. Oder den Literaten. Duras, Guyotat: Beide scheuen weder Pathos noch Drama, und Chéreau liest diese Texte mit einer Neugier und einem Respekt, mit einer Faszination, die er zeitgenössischen Theaterstücken nicht mehr abgewinnen kann, seit dem Tod von Bernard-Marie Koltès und Heiner Müller.

„J’aime l’ Europe, j’aime Patrice“, ruft der Laudator Jack Lang in den Saal, mit der Grandezza der achtziger Jahre, als Lang Frankreichs Kulturminister war und sich wie der Kulturminister Europas fühlte. Und plötzlich nehmen ihn die Schauspieler vom Belarus Free Theatre in ihre Mitte, die in Thessaloniki für ihre Courage, ihr politisches Engagement mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet wurden. Sie heben die Arme zum Solidaritätszeichen und halten eine Fahne in die Kameras, auf der Belarus, Weißrussland, im Kreis der europäischen Sterne steht.

Was für eine Zeitverschiebung! Während der Westen die Fragmente seiner Künste sortiert, wie die Scherben einer vom Sockel gefallenen griechischen Vase, herrscht in der Lukaschenko-Diktatur der Terror. Gefängnis, Zensur. Europa ist größer als seine offenen Grenzen.

Rüdiger Schaper

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