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Kultur: Das Volk 2.0

Wie mächtig ist der Wutbürger wirklich?

Gegenwärtig ist in Europa eine Rückbesinnung auf unvermittelte politische Partizipation, vornehmlich durch Bürgerinitiativen zu beobachten, die mitunter in vehementen wutbürgerlichen Protesteruptionen à la Stuttgart 21 kulminiert. Einige Kommentatoren sehen bereits das Ende der Wähler-Lethargie. Der Dornröschenschlaf des politikmüden Citoyens gehört, so scheint es, der Vergangenheit an. Mündige Bürger reißen wieder das Zepter der Volksherrschaft an sich. Sie wollen endlich am politischen Leben teilhaben und nicht länger tatenlos zusehen. Social Media wie Facebook und Twitter haben einer politikrelevanten Mobilisierung massiv Vorschub geleistet. Erleben wir gerade so etwas wie eine Renaissance des demokratischen Aufbegehrens, gar ein Wiedererstarken direktdemokratischer Impulse?

Zwei kürzlich erschienene Bücher geben darauf unterschiedliche Antworten mit teils überraschenden Schlussfolgerungen. Der erste Titel zeichnet sich durch seine simple Aussage aus: Gelebte Demokratie ist „die Kunst für etwas zu sein“. Der Journalist Christoph Giesa spricht sich in „Bürger.Macht.Politik“ gegen eine Marketing- und „Placebo-Politik“ (Giesa) aus, bei der die Wähler bloß „mitgenommen“ oder „abgeholt“ werden. „Wir sind das Volk 2.0“ lautet Giesas Solgan für das neue einzufordernde demokratische Selbstbewusstsein. Er plädiert gegen politische Blauäugigkeit und kurzsichtige Dagegen-Politik. Seine Erfahrungen als ehemaliger Facebook-Kampagneninitiator für die Gauck-Präsidentschaftskandidatur 2010 lässt er in sein Buch einfließen. Zugleich bricht Giesa eine Lanze für mehr Mitbestimmung und Einbindung der Öffentlichkeit in politische Entscheidungen. Gelegentlich verstellt die streckenweise fast blinde Verherrlichung der egalitär-demokratischen Möglichkeiten des Web dem Autor den Blick für das Wesentliche: die Realität der politischen Entscheidungsfindung. Zwar demokratisiert das Internet Informationen und ermöglicht deren Austausch sowie übergreifende Kommunikation, doch die Vision, dass künftig politische Entscheidungen „bottom up“ von engagierten Individuen an der Basis angestoßen werden, ist Wunschdenken.

Anders der augenscheinlich desillusionierte Korrespondent der Deutschen Presseagentur Laszlo Trankovits. Er hält vermehrte bürgerschaftliche Partizipation am politischen Willensbildungsprozess für einen Etikettenschwindel. Es ist nicht drin, was draufsteht. Eher verkomme das Prinzip Volksentscheid zum „Phantom der wahren Demokratie“ (H.-A. Winkler). Außerdem würden häufige Plebiszite politische Entscheidungsprozesse lähmen. Im Schlüsselkapitel räumt der Autor mit einer Prise Süffisanz mit „Sieben Mythen von ‚Mehr Demokratie wagen’“ auf. Mehr Mitsprache bedeutet nicht zugleich ein Weniger an Politikverdrossenheit. Verliert das „Demokratie-Spielzeug“ (Trankovits) Volksentscheid an Sexappeal, drohen ähnlich niedrige Wahlbeteiligungen wie in den USA. Auch erkennt der Autor im Willen zur stärkeren Mitgestaltung der Bürger einen Mythos, den er mit Verweis auf kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligungen entkräftet. Den Wählerschwund auf den gerne bemühten Parteienfilz zu schieben, wäre zu billig. Vielmehr sei das deutsche Wahlrecht reformwürdig, selbst radikale Veränderungen wie ein Mehrheitswahlrecht zu bedenken.

Trankovits kommt zum Schluss, dass mehr Partizipation die Macht der Lobbyisten stärkt. Nüchtern betrachtet er die vermeintlichen Vorteile der Cyberdemokratie (Stichwort: Liquid Democracy). Mobilisierungszwecken genügt das Medium Internet zwar vollauf, der Umsetzung demokratiepolitischer Erfordernisse werde nur unzureichend Rechnung getragen. Ein „Like“- oder „Dislike“-Button dürfte bei komplexen Sachfragen nicht reichen. Darüber hinaus stärken Referenden kaum die Schwächeren der Gesellschaft. Und auch die Förderung von Umweltanliegen durch direkt-demokratische Instrumentarien sei ein Mythos, wie Trankovits anhand von zahlreichen Beispielen belegt. Eine durchwegs (er-)nüchtern(d)e Bilanz.

Christoph Giesa: Bürger. Macht. Politik. Campus, Frankfurt 2011. 225 S., 17,99 €.

Laszlo Trankovits: Weniger Demokratie wagen. Wie Wirtschaft und Politik wieder handlungsfähig werden. Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt 2011. 288 S., 24,90 €.

Nicolas Stockhammer

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