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Kultur: Das Volk ist klüger

Jürgen Habermas plädiert in seinem Essay „Zur Verfassung Europas“ für eine EU der direkten Demokratie.

Man muss schon sehr viel Ignoranz an den Tag legen, um sich der Sprengkraft des neuen Europa-Essays von Jürgen Habermas zu entziehen. Der Philosoph war während der vergangenen zwölf Monate der schärfste und vielleicht klügste Mahner angesichts der europäischen Finanz- und Schuldenkrise, und man muss heute zugeben: Er hat in den entscheidenden Punkten recht behalten. Seine Rufe nach mehr europäischer Zusammenarbeit wirkten im Geschacher der Politik und der panisch agierenden Finanzökonomen wie die hervorbrechende Stimme der Vernunft. Jürgen Habermas hat mit seinen Interventionen eine Fähigkeit bewiesen, die den meisten Intellektuellen fehlt: Mut zum Möglichkeitssinn.

In seinem Essay „Zur Verfassung Europas“ – ein wörtlich wie metaphorisch gemeinter Titel – zeigt Habermas in einer an Kant geschulten Argumentationslogik, dass es viele gute Gründe gibt, gerade jetzt in der Euro-Krise nicht in regressive Kleinstaaterei zurückzufallen, sondern umso emphatischer ein Europa der Supranationalität zu fordern. Denn nur eine Europäische Union der gebündelten, vereinten und zentrierten Handlungskompetenzen kann einerseits sich gegenüber der wachsenden Konkurrenz in der Weltwirtschaft, vor allem in Asien, behaupten – und andererseits die notwendigen Kontrollmechanismen etablieren, um eine gesunde und vor allem gerechte Haushaltspolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten der Euro-Zone zu gewährleisten. Der Handlungsbedarf liegt jetzt bei der Politik. Sie muss ihren Wählern erklären, wie wichtig eine beschleunigte Entstaatlichung der europäischen Entscheidungsprozesse ist. Es bedarf, so Habermas, eines „demokratischen Gemeinwesens in der Gestalt einer entstaatlichten Föderation“. Das klingt trocken, impliziert aber in Wahrheit einen kühnen, geradezu radikalen Schnitt. In der von Habermas gezeichneten „realistischen Utopie“ würde zwar der Nationalstaat als Garant von Recht und Freiheit weiterhin existent bleiben; der Souveränitätsanspruch zwischen EU und Nationalstaat müsste jedoch geteilt werden. Habermas plädiert für ein Gleichgewicht zwischen Kommission auf der einen Seite (bislang hat sie das alleinige Initiativrecht für Gesetzesnovellen) und Rat und Parlament auf der anderen. Nur so ließen sich demokratische Verfahren „über die Grenzen des Nationalstaates hinaus“ erweitern, um eine Balance zwischen nationalstaatlicher und europäischer Entscheidungskompetenz zu finden. Der Bürger müsse sich seiner schizophrenen Identität bewusst werden. Er ist Unionsbürger und gleichermaßen Angehöriger einer Nation. Dementsprechend ist die „Aufspaltung in zwei personae“ die zentrale Denkfigur, für die Habermas eintritt.

Eine transnationale Willensbildung wäre realisierbar, würde sie die Leitfigur für den politischen Diskurs in Europa bilden. Doch es fehlt an Visionen. Hier kritisiert Habermas vor allem die deutsche Kanzlerin, die es vermeidet, sich für ein solidarisches Bewusstsein innerhalb des europäischen Volkes einzusetzen. „Der lange Schatten des Nationalismus liegt auch noch auf der Gegenwart“, heißt das Verdikt. Dabei ist zu beobachten, dass Reisefreiheiten und Neue Medien wie das Internet nationalstaatliche Identitäten ohnehin längst porös gemacht haben. Mit anderen Worten: Das europäische Volk ist klüger als seine Politiker.

Was fehlt, ist eine paneuropäische Debattenkultur, in der griechische Haushaltsentscheide genauso diskutiert würden wie deutsche Gesetzesentwürfe über Steuererhöhungen. Insofern tragen auch die Massenmedien eine gehörige Mitschuld am Demokratiedefizit innerhalb der EU.

Mit dem Lissabon-Vertrag ist ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Das Problem ist nur, so Habermas, dass in der aktuelle Euro-Krise ökonomische Interessen den politischen Einigungsprozess überschatten. Europa kann als Einheit aber nur dann funktionieren (auch ökonomisch), wenn sich die Mitgliedstaaten bereit erklären, ihre Machtkompetenzen an zentraleuropäische Organe abzugeben. Auf diesem Weg könnte man endlich eine Scheindemokratie zu Grabe tragen, die von bilateral ausgehandelten Kompromissen und den „Imperativen der Märkte“ abhängig ist. Die Europäische Union der Gegenwart sei also nichts weiter als eine „postdemokratisch-bürokratische Herrschaft“, in der das europäische Volk als Wähler und Mitentscheider konsequent übergangen werde – die Aussetzung des Referendums in Griechenland sei dafür der beste Beweis. Merkel und Sarkozy, immerhin die Repräsentanten der zwei mächtigsten Staaten in der Union, diskreditieren sich als Bremser des Europäisierungsprozesses, weil sie den Lissabon-Vertrag allein als Garanten für stabile Wirtschaftsbeziehungen begreifen und nicht als idealistisches Projekt auf dem Weg zu einem vereinten Europa.

Geradezu kühn mutet der letzte Abschnitt des Essays an. Darin fordert Habermas nichts Geringeres als die Konstituierung eines interkulturellen Weltparlaments. Im Geiste von Kants Kosmopolitismus behandelt er Menschenwürde als Prämisse für ein ausgewogenes politisches und ökonomisches Handeln. In diesem Minimalkonsens, der durch die Weltreligionen gedeckt sei, könnte die EU ein Vorreiter für die Zivilisierung des globalen Staatswesens in Richtung einer Weltgemeinschaft sein, die sich ihrer moralischen Verantwortung nach zwei Weltkriegen bewusst wird. So tritt der große Vorzug der Habermasschen Denkfähigkeit gegenüber der klugen, aber wenig visionären Systemtheorie von Niklas Luhmann zutage: Hier wird noch über Utopien diskutiert. Oder nüchterner gesagt: über mögliche Veränderungen in einem Europa, das aktuell an nationalstaatlichen Borniertheiten zu scheitern droht.

Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 130 S., 14 €.

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