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Kultur: Das Zittern der Lichter im Eis

Die Stadt und ihr Geheimnis: Winterliche Spaziergänge des tschechischen Dichters Petr Borkovec

Im Berliner Stadtteil Charlottenburg, am westlichen Ende der Kantstraße, friert der Lietzensee zu, an dessen Ufer zwei Marmorrobben ineinander verschlungen sind. Das tuschfarbene X ihrer Körper glänzt betörend vor dem grauen rissigen Pergament. Am Morgen stürmt ein Arbeitertrupp von der Uferpromenade auf das Eis. Ein von einem der Männer über den schwarzen Rasen gezogener Ast und die hinter einem vorbeifliegenden Flugzeug aufbrechende Furche haben die gleiche Geschwindigkeit.

Die Geräusche sind hier spärlich geworden – zu spüren ist ihr Wald, der hinter einem zurückblieb, nicht besonders weit weg, dafür aber weiter oben, wo es wärmer war. Hier schießen vereinzelt gedämpfte Salven empor in der sich schließenden Eisdecke. Wasser, das sich aus einem Rohr abspult, der Strauch der splitternden Kruste des vereisten Weges und vielleicht noch das Lärmdickicht vom Seehof. Das Tageslicht rückt langsam vor, zurückgehalten von der nächtlichen Arbeit des Frosts. Es ziseliert die Spitzen der in Glas eingegossenen Zweige, während ganze Partien des Seeparks dunkel bleiben. Und als wäre die Morgendämmerung letztendlich gar nicht wichtig; worum es geht, ist das Auszählen im geräuschlosen Raum, irgendwo tief in dem grauen Panzer, das ein zartes Knacken beendet, zur Ankündigung, das Eis habe den Grund erreicht.

Erst dann, mit dem ersten unsicher auf die Fläche des Sees tretenden Bein und dem ersten Auge, das von hier die Ufer und die plötzlich wie Gelee zerklopften Wege erblickt, das in die nasse Wölbung des Viadukts schaut und sich in den Spritzern der Flechten und in den Reihen der durch Rost und Schleim zu Tropfsteinen verwandelten Eiszapfen widerspiegelt, fängt der Tag an.

Im Kant-Kino in der Kantstraße 54 wird schon ab elf Uhr gespielt. Von einer auf den Nachtbus wartenden Hand mit Zigarette löst sich ein schönes Profil und verwandelt sich in die Gesichtszüge des Frostes selbst. Im schwarzweißen Wind flimmern Fenster und Auslagen, eine schwankende Akazie sieht wie eine im Varieté in der Hand gewogene schwarze Anakonda aus. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, leuchtet auf einer Fassade aus schwarzen Fliesen das Neon des Sex-Kinos Cascade. Diagonal, in einem einzigen Zug geschrieben. Auch der niedrige Hauseingang ist gefliest – in dieser schwarzen Wanne duscht ständig jemand; es sieht dauernd aus wie nach einem Regen. Die statt eines Fensters in die Mauer vertiefte Getränkekarte buchstabiert sich selbst im kläglichen Schein einer schmutzigen Glühbirne. Der unentschlossene Held schafft es nicht, sie zu lesen; ab und zu hört er etwas, wenn er die Ohren spitzt. Schließlich geht er weg. Die Aufschrift SEX auf der vierkantigen, wohl roten Laterne, die sich hinter seinem Rücken entfernt, ist zu einer chinesischen Kalligrafie geworden. Er kommt an einem wirklichen chinesischen Restaurant vorüber, in dem inmitten von Aquariumsalgen vor einem Monat gedeckte Tische schaukeln, beleuchtet von der Schneiderei Ginger&Fred, die – mit den abgeblätterten Rahmen des Schaufensters, den mit Papierzetteln und Zwirnspulen verkleideten Wänden – einer riesigen entomologischen Schachtel ähnelt. Vor dem Kant-Garagenpalast, wo hinter dickem Glas von Motorhauben und Ersatzteilen volle Etagen aufragen und der an einen furchterregenden erloschenen Hochofen gemahnt, unter dem das niedrige, blasse Feuer der Nonstop-Tankstelle kümmert, gibt er einem anderen Passanten Feuer. Und dann tritt er über den äußeren Treppenaufgang zwischen die Autos, als suche er sein eigenes, das er hier nie geparkt hat. Schließlich kann er, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trügt, gar nicht Auto fahren.

Er blickt in die abgestellten Wagen; ihre Windschutzscheiben verbindet ein loser glühender Lichtfaden, der irgendwo in den finsteren Tiefen der Stadt zerrissen ist. Seine eigene Geschichte geht danach weiter. Der Film und die Straße sind lang, sie haben kaum begonnen.

Von einer Berliner Straße aus ist der Mond zu sehen, in den Straßen Berlins wird der menschliche Schatten länger“, schrieb vor achtzig Jahren der neoklassizistische russische Exildichter Vladislav Chodasevic in einem Gedicht über die nächtlichen Streifzüge durch die windigen Straßen „der Stiefmutter der russischen Städte“. Sie trieben sich damals zu dritt herum – Chodasevic, Nina Berberova, Andrej Belyj. Ich bin in Berlin allein und gehe nicht aus. Aber die Stipendiatenwohnung am Ende des Kurfürstendamms ist weitläufig, zugig und voll langer menschlicher Schatten und verhallender Schritte, mit dem smaragdgrünen Punkt des Mondes unter der fünf Meter hohen Zimmerdecke.

Kurz gesagt, sie besteht aus vier Badezimmern und einem Speisezimmer für vierzehn Tischgefährten. Kampflustig ticken in diesem Raum einander gegenüber zwei Wanduhren, und im Spiegel einer Anrichte, die die Form einer abgestumpften flachen Pyramide hat, zeichnen sich Tischplatte und Stühle ab, daneben vier deformierte Mini-Esszimmer.

Der Fußteil des Tisches, feist und geschnitzt, sieht wie ein zum Ausweiden aufgespanntes Reh aus. Bei näherer Untersuchung verwandelt er sich in ein anderes Tier. Das Fenster in den von Häuserblöcken umschlossenen Hof und der magere dreiarmige Lüster an einer kurzen Kette sind, was das Licht betrifft, arm dran und helfen einander den Großteil des Tages in rührender Weise. Den gigantischen Stadtplan, den ich an einer der leeren Wände befestigt habe, fängt der Spiegel gottlob aus keinem Winkel ein.

Von den vier Badezimmern (vielleicht befand sich hier einst eine Pension) werden zu dem ihnen eigenen Zweck nur zwei benützt, das dritte dient als Rumpelkammer, das vierte wurde zur Waschküche. Ich jedoch stelle für diesen Text die Dusche in jenem dritten an und werde zusehen, wie sich unter dem feinen Strahl die Kartons mit den Romanen eines früheren Stipendiaten braun verfärben, mit Wasser voll saugen, platzen und auf die Fliesen klatschen. Dann zwänge ich mich in den Spalt zwischen Bügelbrett, mehreren Wäschetrocknern und einer Aluminiumleiter, strecke mich an einer Säule ausrangierter geblümter Lampenschirme vorbei nach der Seife und drehe das heiße Wasser stärker auf. Ich ziehe den Gummivorhang zu. Gibt es irgendwelche Beweise, dass ich je hier war?

Ich spüre in der mir zugewiesenen Wohnung die Spuren meines Vorgängers auf. Dieser mexikanische Prosaschriftsteller hat mit Vorliebe in einer Wanne gebadet, um die herum er (hier noch dutzendweise vorhandene und Grablichtern gleichende) Kerzen aufstellte, und er hat offenbar häufig etwas gebraten. Er hatte vermutlich eine Tochter, oder zwei – immer wieder entdecke ich unter den Möbeln eine Haarspange in einem Staubknäuel. Ich stecke mir eine davon ins Haar, betrachte mich im Spiegel der Anrichte, lege mich im Kinderzimmer ins Bett.

Es hat abends leicht geregnet in den Kastanienbaum im Hof. In einem gegenüberliegenden unbeleuchteten Fenster stand eine ältere Frau und betete. Sie kam mehrmals wieder, richtete sich beim Beten die Haare, strich den Vorhang glatt, einige Male sah sie mich direkt an. Ich kehrte mehrmals ans Fenster zurück, beobachtete ihren ängstlichen Gesichtsausdruck, wünschte mir, sie würde verschwinden. In der Nacht las ich in einer Anthologie mit an dieser Adresse über diese Adresse verfassten Gedichten. Auf die im gegenüberliegenden Fenster betende Frau stieß ich zweimal – einmal hält sie eine Kerze in der Hand und ein Korela-Papagei hockt auf ihrer Schulter (der Text in freiem Vers stammt von einer Amerikanerin), das zweite Mal hatte der Autor (ein Ungar) sie etwas jünger gemacht und sie (in Sonettform) nach Art einer manieristischen Radierung beschrieben.

Aber jetzt ist Morgen. Ich habe die Häuser ringsherum abgetragen, alle beleuchteten und unbeleuchteten Fenster – rechts erstrahlte die Autobahn, links eine Ansammlung kleiner Seen mit den verheißungsvollen Namen Hubertussee, Herthasee, Königssee, Dianasee. Ein Schwarm rotierender Rasensprayer besprengt dort die Strandwiese, das Wasser plätschert gegen die soeben ausgetauschten Säcke in den Mülleimern. Nicht weit entfernt, auf dem Henriettenplatz, taucht aus einem Brunnen der Kopf eines Flussgottes, vielleicht sogar der von Okeanos auf. Ich stehe nackt am Fenster, halb verdeckt von den Falten des Vorhangs, und alles rundherum lässt mich unbeteiligt. Lustvoll okkupiere ich alle Orte und keinen. Wie irgendein jüngerer, dreister Gott. Ich wechsle die Masken. Und habe Zeit.

Petr Borkovec, Jahrgang 1970, lebt mit seiner Familie als Dichter und Übersetzer in Cernošice bei Prag. Auf Deutsch sind in der Wiener Edition Korrespondenzen von ihm die Lyrikbände „Feldarbeit“, „Nadelbuch“ sowie „Fünfter November und andere Tage“ erschienen. Als Stipendiat des DAAD hat er unlängst ein Jahr in Berlin verbracht und dabei zum ersten Mal Prosa geschrieben. Eine Sammlung seiner von Christa Rothmeier übersetzten Miniaturen soll demnächst bei der Friedenauer Presse erscheinen.

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