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Der serbische Autor David Albahari

© dpa / picture alliance

David Albaharis Roman „Das Tierreich“: Die zwei Gesichter der Wahrheit

Keine einfachen Lösungen: David Albaharis Bosnien-Roman „Das Tierreich“ erzählt von Feigheit, Ohnmacht und lebenslang empfundener Schuld.

Im „Lager der Vergesslichen“ lebt es sich oft leichter und schöner. Unangenehme Erinnerungen können weggesperrt werden – bis dann jemand auftaucht, der die Fassade einreißt. So eine Figur ist der Icherzähler in David Albaharis Roman „Das Tierreich“: Denn er konnte niemals verdrängen, was vor 40 Jahren in einer Kaserne in Banja Luka geschehen ist. Dort hatte er damals auf brutale Weise erfahren müssen, „mit welcher Leichtigkeit sich der Mensch selbst auslöscht“. Thematisiert werden Feigheit, Ohnmacht und Unentschlossenheit, letztendlich die große Frage einer lebenslang empfundenen Schuld.

Es ist ein aufwühlendes, beunruhigendes Buch des großen serbischen Erzählers Albahari, dem man angesichts der düsteren historischen und politischen Zeitläufte viele Leser wünscht. Es berichtet von den Fallstricken, die das Böse in einem Menschen zu knüpfen vermag: So wird der bis dahin vermeintlich Gute in einen Abgrund gezogen. Das bringt ihn zu Handlungen, die er sich vorher niemals hatte vorstellen können. Und auch das gehört zu den Stärken des Autors: Er liefert keine einfachen Lösungen. Hier heißt es gleich zu Beginn: „Die Geschichten leben nämlich nur dort, wo es mehr als einen Zeugen gibt, weil die Wahrheit immer mindestens zwei Gesichter haben muss. Hat sie nur eines, dann stimmt etwas nicht – mit der Geschichte oder mit der Wahrheit.“

Allmählich entfaltet sich die Vorgeschichte eines Mordes

Das Buch beginnt mit einer Herausgeber-Fiktion: 2005 nämlich sei am Belgrader Flughafen ein Manuskript gefunden worden, in einem blauen Ordner, beklebt mit Figuren aus Zeichentrickfilmen von Walt Disney. Ein Verleger habe dann die an vielen Stellen unklare Vorlage bearbeitet und veröffentlicht, ist zu lesen. Dessen besondere Aufmerksamkeit galt den „Endnoten“, die umfangreiche Kommentare und Reflexionen zur eigentlichen Geschichte enthalten. Der Verleger habe aber nie herausgefunden, wie viele Personen den Text geschrieben hätten.

Im Prolog präsentiert sich die Figur des Icherzählers – ein eigentlich zart besaiteter Intellektueller – mit einem Paukenschlag: „Seit gestern ist die Welt ein besserer Ort. In ihr gibt es nämlich Dimitrije Donkić nicht mehr. Ich habe ihn getötet.“ Allmählich entfaltet sich die Vorgeschichte dieses Mordes. Sie beginnt in der „finsteren Welt des Militärs“, in einer Kaserne in Banja Luka in Bosnien-Herzegowina. Dort wurden die Mitglieder einer Freundesgruppe „Das Tierreich“ genannt. Es sind Dimitrije, der Waschbär; Miša, der Spatz; Redžep, die Schlange und Goran, die Zecke. Der Icherzähler bekommt den Beinamen „Tiger“, weil er den anderen William Blakes Tiger-Gedicht vorgetragen hatte.

Obszönitäten, Gewalt, Homosexuellenfeindlichkeit

Eigentlich sind sie nur eine Schicksalsgemeinschaft in der absurden Welt des Militärs. Doch in ihrem oft von Obszönitäten, Gewalt und Homosexuellenfeindlichkeit bestimmten Kosmos aus Männerritualen verstehen und geben sie sich als Freunde. Und begreifen nicht, wie sie getäuscht und zu Dimitrijes Marionetten werden. Er hat eine alte Rechnung offen, die in die Zeit der Studentenbewegung in Belgrad im Jahr 1968 und in die darauf folgende Zeit der Repression zurück führt. Dimitrije gewinnt Stück für Stück Macht über die Psyche der Gruppenmitglieder, lenkt sie in eine Richtung: Er will über den „Tiger“ Rache an Miša nehmen, der damals bei den Protesten eine wichtige Rolle spielte.

Albaharis Leben und Schreiben ist eng mit den Geschehnissen in seiner Heimat verknüpft. Der jüdische Autor wanderte 1994 nach Kanada aus, um dem von Nationalismus und Antisemitismus geprägten politischen Klima zu entkommen. In vielen seiner Werke thematisiert er seine Familiengeschichte und die Folgen der Balkankriege. Inzwischen lebt er einige Monate des Jahres wieder in Belgrad.

Spiel mit der Verrätselung

Der Schriftsteller spielt mit täuschenden Perspektiven und Mehrdeutigkeiten. Sie sind allerdings nie eitler Selbstzweck, sondern entspringen seiner Skepsis gegenüber einem wahrheitsheischenden Anspruch der Sprache. Eigentlich sei man beim Erzählen einer Geschichte von vornherein zum Scheitern verurteilt, lässt Albahari den fiktionalen Verfasser des Buches „Das Tierreich“ schreiben: „Weil es Menschen und Ereignisse gebe, die größer seien als Worte; sie sprengten den Umfang der Sätze und überschritten die Grenzen der Erzählung.“

Auch die im Buch angelegte Herausgeberfiktion spielt mit dem Prinzip der Verrätselung. Stück für Stück verliert der Autor des Manuskripts die Gewissheit über den Ablauf der Ereignisse, von denen er eigentlich so wahrhaftig wie möglich berichten möchte: Gegenwärtiges wird mit Vergangenem kontrastiert, scheinbare Fakten mit unlösbaren Geheimnissen. Und die eigentliche Handlung verwebt sich schichtenweise mit Reflexionen. Für dieses Zwischenreich der Worte hat David Albahari eine glänzende sprachliche Form gefunden.

David Albahari: Das Tierreich. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling & Co., Frankfurt am Main. 160 Seiten, 20 Euro.

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