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Uomo universale. Der Literaturwissenschaftler Norbert Miller.

© picture alliance/dpa/M. Schutt

Dem Literaturforscher Norbert Miller zum 80.: Den Geist hemmt kein Verlies

Licht und Schattenwurf der Romantik: Dem Literaturwissenschafter Norbert Miller zum 80. Geburtstag

Als er 1978 knapp halb so alt war wie heute und gerade fünf Jahre Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der TU in Berlin, wurde Norbert Miller auf einen Schlag berühmt. Damals erschien im Münchner Carl Hanser Verlag, dem er seitdem treu geblieben ist, seine Studie mit dem sofort bezaubernden Titel „Archäologie des Traums“. Und in selbstbewusster Bescheidenheit lautete der Untertitel: „Versuch über Giovanni Battista Piranesi“. Tatsächlich war es ein 500-seitiger Band, der den italienischen Architekten, Archäologen und Zeichner des 18. Jahrhunderts mit seinen Kupferstichen antiker und dem Verfall oder der Fantasie anheimgegebener Bauten als eine Schlüsselfigur der europäischen Geistesgeschichte wiederentdeckte. Piranesis „carceri“, diese als „Kerker“ kaum begreiflichen, auch in Seelenabgründe führenden Verliese sind uns vor allem dank Norbert Miller geöffnet worden: als Luft- und Lustschlösser einer zeitübergreifenden, durch keine Psychologie je enträtselbaren Romantik. Miller begann seine „Archäologie des Traums“ also nicht mit Sigmund Freud, sondern mit Byron und Shelley, Gérard de Nerval und Baudelaire – und endete mit einem Piranesi-Gedicht des jungen Enzensberger.

Millers zweites Buch war das damals erst, nach einer Dissertation über Romananfänge des 18. Jahrhunderts. Weit über alle Fachgelehrsamkeit hinaus erwies sich der Autor so schon als Weltgeist, als „uomo universale“ im Sinne der italienischen Renaissance. Von der Musik, den bildenden Künsten, den Literaturen des Okzidents und Orients bis zur Philosophie oder Religionsgeschichte ist ein Kosmos immer gegenwärtig in Norbert Millers großem Kopf, der auf einem hünenhaften Körper thront. Doch entspringt dem gebürtigen Münchner dabei kein höherer Bildungsdünkel, vielmehr auch ein von seinem oberbayerischen Bariton wunderbar grundierter Humor. Bis hin zur Selbstironie, die, wie schon sein Nachname anzeigt, den Berliner Bayern auch als Briten ausweisen könnte.

Norbert Miller, von Walter Höllerer einst an die TU geholt, hat Jean Pauls Werke, hat Goethe, Nietzsche, de Nerval und Henry Fielding herausgegeben und mit Carl Dahlhaus zwei Bände zur „Romantik in der europäischen Musik“. Millers „Der Wanderer. Goethe in Italien“ (von 2002) ist die profundeste Untersuchung zur „Italienischen Reise“. Vor zwei Jahren hielt er die Laudatio auf Navid Kermani zur Friedenspreisverleihung in der Frankfurter Paulskirche, auch das. Seine (un)heimliche Liebe aber gehört dem Anglo-Romanischen: der Spukliteratur eines Horace Walpole, des Erfinders der italianisierten „gothic novel“, oder der „Dunklen Welt des William Beckford“ (2012) wie auch der von ihm bei Hanser inspirierten „Bibliotheca Dracula“. In Berlin-Zehlendorf steht sein Schreibtisch am Schlachtensee, Romantik ohne Spukschloss. So feiert der Universalgelehrte heute seinen 80. Geburtstag und möge noch lange fortfahren auf seiner guten Geisterbahn!

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