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Kultur: Der Advokat, der aus der Kälte kam

Über ihn lief der Freikauf von 35 000 politischen Häftlingen: Wolfgang Vogel war Honeckers Mann fürs Menschliche. Jetzt lebt er in Bayern

Der ehemalige DDR-Unterhändler wartet schon an Gleis 2. Wolfgang Vogel steht im Bahnhof Schliersee, Brecherspitze und Jägerkamp hinter sich. Er trägt nicht die ortsübliche Miesbacher Tracht mit Hirschhornknöpfen, sondern Existenzialistenlook: schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzes Strickhemd, ein gestreifter Kragen lugt hervor. Die bläulich getönte Brille gibt dem Ruheständler südliches Flair.

Am Telefon verblüffte zuvor sein Bedenken, „erkennen wir uns?“ Bis man beim Einlesen in die romanhafte Biografie merkt: auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos, die ihn berühmt machten, ist der Rechtsanwalt nur schemenhaft zu sehen. Um den Emissär zu identifizieren, muss man schon wissen, wer er war.

Gute Frage: Wer war er, der Professor Dr. Wolfgang Vogel? Auf den Briefkopf druckte er in gediegener Schreibschrift die Ost-Berliner Kanzleiadresse Reiler Straße 4 mit dem Zusatz „Zugelassen auch bei den Gerichten in Westberlin“. Schon damit war der Advokat eine Rarität, die im Hintergrund agierende Schlüsselfigur beim Freikauf politischer Häftlinge durch Bonn, offiziell: „Bemühungen der Bundesregierungen im humanitären Bereich“. 35 000 Menschen aus DDR-Knästen kamen so über die Sammelstelle Karl-Marx-Stadt via Herleshausen in Freiheit.

„Raten Sie mal, wie oft ich dort war?“

„Keine Ahnung.“

„Rundgerechnet 1250 Mal“.

Häufig chauffierte ihn seine Frau Helga zum Grenzübergang. Er hätte den Diplomatenpass D 14026 mit rotem Hammer, Zirkel, Ährenkranz nicht gebraucht, sein goldlackierter Mercedes war Ausweis genug. Der Star der klassenlosen Gesellschaft arbeitete sich vom Wartburg Coupé über Opel zum 280er Daimler hoch. „Champagnermetallic“ sei übrigens der korrekte Begriff für die Wagenfarbe. Er versichert sich der Bezeichnung bei seiner Helga, „sie ist mein Gedächtnis“.

Kiek an, Honeckers Mann fürs Menschliche ist jetzt ein echter Bayer, verlegte den „4. Lebensabschnitt“ ausgerechnet ins CSU-Land. Im Gasthof „Am Prinzenweg“ wird der Stammgast hofiert. Der Schlierseer beteuert mit vagem Lächeln, es bedeute ihm „jedesmal eine Belastung, die Zeit für mich zurückzuholen. Das rührt mich auf“. Zum Teil mag es daher kommen, dass er sich bis zum Mauerfall als Erwählter fühlen durfte, gleichermaßen Vertrauter des „Genossen Staatsratsvorsitzenden“ wie von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er war ihr Meldegänger für Heikles. Mit seiner Eloquenz (auch in eigener Sache), seiner Schneidergarderobe stellte er das weltläufige Pendant zum ewigen Saarländer Erich dar. Fast hätte man fragen müssen, ob sich hinter der Stilisierung – Glashütte-Uhr am Kettchen, Einstecktuch – ein Geheimnis verbarg. Die Anmutung verriet seine Anspannung. Er lächelte sehr professionell, also mit innerer Berechnung beschäftigt. Womöglich kompensierte das allzu Schnieke den DDR-Minderwertigkeitskomplex.

Im Arbeitszimmer steht eine Büste Friedrichs des Großen, Genien tragen die Lampen. Der Hausherr platziert sich im Sessel, wegen Augenproblemen die Leselupe griffbereit. Er ist 77, sagt jedoch „ich werde bald 80“, streicht „die Besinnung auf die Zeit“ heraus. 100 Taschen- und Kaminuhren symbolisieren das Thema des Sammlers. Chronometer hätten für ihn „die Bedeutung des Rückblicks“ aufs Verflossene, „ticken, leben, vermitteln“. Die Gedanken enden bei der Frage: „Wer könnte die Uhr getragen haben?“ Zur Demonstration bringt er die Taschenzwiebel von Herbert Wehner. Witwe Greta schenkte sie ihm zum 70. Einmal jährlich, am 11. Juli zu dessen Geburtstag, ziehe er das ihm teure Stück auf.

Mit dem SPD-Politiker verband ihn eine intensive Beziehung, die keine Floskeln brauchte. „Er war mein Lehrmeister“, gewiss in Verschwiegenheit. Onkel Herbert konnte knurren: „Junger Mann, wir verhandeln hier nicht über Tomaten, sondern über Menschen.“ Besuchte er ihn in der Godesberger Adresse Am Heidehof, legte der Alte Schellackplatten mit schwedischen Arbeiterliedern auf. Beiläufig griff er, schildert Vogel, „in nächtlichen Stunden“ zu einer seiner unergründlichen Aktentaschen, „übrigens habe ich da noch ’ne neue Liste“: Aufstellungen mit politischen Gefangenen, welche die Bundesregierung bei der DDR auslösen wollte. Die Kommunisten frönten dabei dem kapitalistischen Motto, „Geld stinkt nicht“, ließen sich Regimegegner zum Stückpreis von zuletzt 95 847 Mark abkaufen. Kopfgeld? Vogel hasst den Begriff.

In jungen Jahren trug er das dichte Haar wellig zurückgelegt. Der Bursche hatte was. Schon 1962 hörte die Welt von ihm raunen, Vogel zog die Fäden beim spektakulären Austausch des von den Sowjets abgeschossenen, amerikanischen U2-Piloten Powers gegen den Russen Abel – Spione, die aus der Kälte kamen. Der Deal endete glücklich an einem Februarmorgen auf der Glienicker Brücke, dank ihm, dem geheimen Regisseur des filmreifen Thrillers. Nicht umsonst musste er richtig stellen, „ich bin kein James Bond der DDR“. Das Abenteuerliche seiner Existenz hätte man nie erahnt, in der pathologisierten deutsch-deutschen Realität war er brav mit Attachémappen unterwegs.

Staatsfeinde raus

Die Bilder der DDR verblassen. Ihr laut damaliger Bestallungsurkunde hoher Repräsentant ist heute eine anachronistische Figur. Sein Aufstieg verdankte sich dem Eisernen Vorhang, zwei Deutschlands mit unversöhnten Brüdern & Schwestern, der kafkaesken SED-Justiz, die Andersdenkende willkürlich einsperrte. Im Wissen um die zementierten Verhältnisse hielt Vogel Reflexionen über die Wiedervereinigung für absurd, Sozialist, der er nach eigenem Bekenntnis war, durchaus mit Treuegefühl der Sache des Marxismus verpflichtet. Sofern ihn andere Gedanken umgetrieben hätten „bevor es Bums machte und die Wende kam“, hätten ihn Russenpanzer, „die ich täglich in Karlshorst sah“, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. „Dass sich zu meiner Lebenszeit was verändert, glaubte ich nie“, insoweit besaß der beim Kanzleramt akkreditierte Mittler eine Jobgarantie, „ich habe die Aufgabe nicht geliebt, aber keine Alternative gesehen“.

Wolfgang Vogel führt das Gespräch mit altmodischer Artigkeit, vorsichtig-abwägend sucht er seine Erinnerungen ab. Steifer, dem Thema geschuldeter Ernst wechselt mit Anekdoten und Hinweisen, er sei weiter zum Schweigen vergattert. Ganz der Unterhändler steuert er sein Ziel an, lässt sich nie vom Weg abbringen. Argumenten hilft er mit den Händen weiter. Vogel hat die frische Gesichtsfarbe des Wanderers. Auffallend der verbitterte Mund, tief eingegrabene Falten, der melancholische Blick. Vielleicht vom Alter, vielleicht von der Anstrengung des Verdrängens und Taktierens, vom Aussichtslosen, das ihn auf den Formularen „Sprechgenehmigung für Verteidiger“ erreichte: „Ich bitte um ihren schleunigen Besuch“ stand darauf, er zeigt ein Muster. Im idyllischen Schliersee ist jene sehr nahe Ära sehr fern, in der er 250 000 DDRlern über Todesstreifen hinweg zur Ausreise verhalf, oder als internationaler Vermittler 150 inhaftierte Spione aus 23 Ländern rausverhandelte.

Einerseits. Er hatte das Ohr Honeckers. Bis zum Ende blieb Vogel ihm in anhänglichem Sentiment verbunden. Meist sprachen sie im ZK-Gebäude miteinander, zweiter Stock, Büro VII. An der Stirnseite Schreibtisch und Telefone. Auf ein bestimmtes Klingeln habe Honecker gesagt, „an diesen Apparat muss ich!“ und russisch in die Muschel gesprochen. Unvergesslich die Schrankwand linker Hand mit verborgenen Tresoren. „Eigenartig“, er verwahrte darin Unterlagen in kleinen Koffern als reise er bald ab. Honeckers Linie habe „klar und eindeutig“ gelautet: „Staatsfeinde raus!“ „Er wollte Gegner loswerden, Ruhe auf dem politischen Parkett.“ Zum Schluss war der abgemeierte Genosse kurz sein Klient, „ein psychisch Gebrochener, er lebte aus wenig Habseligkeiten“. Im Militärhospital Beelitz bot der seinem Vogel das „Du“ an, fragte beim Politisieren über die Wirtschaftsmisere – 15 Jahre Lieferzeit für einen Wartburg – „Warum hast du mir das nicht früher gesagt?“ Wolfgang antwortete wahrheitsgemäß, „weil du mich dann rausgeschmissen hättest“. Er wollte von Erich erfahren, „wie war dir zumute, wenn du in Brandenburg am Gefängnis vorbeifuhrst?“

Andererseits. Seine graue Eminenz war eine feste Einflussgröße, Sympathieträger unter volkseigenen Polit-Gestalten, Ansprechpartner von sechs Bundesregierungen. „Die heilige Mutter Teresa des Menschenhandels“, spöttelte Biermann. Vogel spielte den Briefkasten für Ost und West, sein Siemens-Telex, Nummer 11-3023, 113023 vobe dd, lief heiß. Von jedem Schreiben zog sich die Stasi heimlich eine Kopie. Dass man ihn abhörte, unterstellte er als gegeben. Die Bonner drückten ihm „Geheim!“-gestempelte Vorschlagslisten mit Eingesperrten in die Hand, jeder Name eine Tragödie für sich. Die Dossiers landeten bei der federführenden „Hauptabteilung Ermittlung im MfS“. Am Ende enervierenden Ringens setzte Stasi-Chef Mielke handschriftlich sein „zugestimmt“ unter die Entlassungsbögen. „VG“ bedeutete „Versagungsgründe“, abgelehnt. Vogel strich „erledigte Fälle“ mit grüner Farbe aus.

Das Amt machte ihn groß und reich, für SED-Verhältnisse unvorstellbar reich. Er rettete Gediegenheit und Sinn fürs Schöne ins Alpenland, in umfassendem Sinne seine Endstation; die Eheleute sicherten sich Gräber auf dem Kirchhof von St. Martin, mit Blick auf die Schlierseer Berge. Allein aus Bonn bezog der Mauerspringer damals 360 000 D-Mark Jahreshonorar. Der Ausverkauf vom Schicksal geschlagener Menschen spülte 3,5 Milliarden D-Mark in die marode DDR. Insoweit war der Advokat kein Samariter, sondern wichtiger Devisenbringer. Barmherzig war sein Mandat, so es Entrechtete aus den Horrorgefängnissen Bautzen oder Hohenschönhausen erlöste. Das vergessen jene, die heute fleißig nach Verstrickungsmotiven suchen und ihm vorwerfen, sich im Unterholz des totalitären Regimes verlaufen zu haben. Die Staatssicherheit ist damit gemeint.

Anwalt des Teufels

Vogel war der rechte Mann zur rechten Zeit. Nur, wer hat ihn eigentlich erfunden? Der Freikauf war eine Idee des Westens, mutig forciert von Rainer Barzel, CDU. Welchen Anteil das MfS an Vogels Anwalts-Etablierung hatte, ist umstritten. In den 50ern fungierte der „Geheime Informator“ und „Geheime Mitarbeiter“ zeitweise mit den Decknamen „Eva“ und „Georg“. Die Spitzelnummer 4148/53 ist in der Vita einer Vertrauensperson nicht ganz geheuer, für die das Bundesverdienstkreuz bereitlag. Vogel wäre nicht der Erste, der für sich in Anspruch nahm, Spielmacher gewesen zu sein, derweil Mielke mit ihm spielte.

Es ist still bei ihm. So still, dass sein Hadern mit den Staatsanwälten heftiger wirkt, die nach 1990 gegen ihn u. a. den Vorwurf der „Erpressung von Ausreisewilligen“ erhoben. Plötzlich hieß es, er habe Menschen geschadet, sein Lebenswerk drohte ins Gegenteil verkehrt zu werden. Das rührt an den Grund seiner Persönlichkeit, Vogel ist ein Gefühlsmensch, seine ganze Natur auf Harmonie angelegt. Mit nicht geringer Autoritätsfixierung hungerte er nach Anerkennung beider Seiten. Obwohl der SEDler bei aller Geschmeidigkeit im kaum auflösbaren Widerstreit der Emotionen nie Zweifel ließ, wem er angehörte und was ihm die Vorrangstellung bedeutete. Mit dem Emissär makelte eine gespaltene Persönlichkeit im gespaltenen Deutschland, Legenden, Missverständnisse inbegriffen. Für ihn galt der Zwiespalt, den Graham Greene (er könnte Vogels vieldeutige Rolle erfunden haben) einmal so beschrieb: „unter Kommunisten auf die Vorzüge des Kapitalismus, unter Kapitalisten dagegen auf die des Kommunismus“ hinweisen zu müssen.

Der Unterhändler fand sich im Mittelpunkt diverser Verfahren und kriminalisiert, kaum dass er Macht und Einfluss verlor. Ihm, der in Politikern wie Richard von Weizsäcker nobelste Fürsprecher hatte, setzte jahrelanges Prozessieren böse zu. Früher war seine Funktion eindeutig bestimmt als „Anwalt des Teufels“ (sein Biograf Craig R. Whitney), nun fand er sich als verteufelter Anwalt wieder; undurchsichtiger Machenschaften bezichtigt. Vom Bundesgerichtshof schlussendlich rehabilitiert (und vom Erpressungs-Vorwurf freigesprochen), hinterließ monatelange Untersuchungshaft eine dicht unter der Oberfläche liegende Gekränktheit – die verlorene Ehre des Wolfgang V. Nie hätte er geglaubt, sich auf Selbstverteidigung zurückgeworfen zu finden. Denn er war nicht nur eine Person der Zeitgeschichte, die sich stets den gängigen Kriterien entzog. Er stand darüber, fühlte sich auch so. „Meine Wege waren nicht weiss, nicht schwarz, sondern grau.“

Die Eigentumswohnung mit blauen Fensterläden wäre der richtige Platz, Unerschütterlichkeit zu demonstrieren, käme er nicht immer wieder auf seine Verfolger zurück. Ausgesucht schöne Möbel, Rokoko-Göttinnen, Meißner Porzellan mit Zwiebelmuster, Kruzifixe – ein Museum seiner selbst, schon wegen der raren Fotos an der Wand. Die beglaubigen ihm den Rang, der seinem Idealbild entspricht: Schnappschüsse von Barzel, im Rahmen Handschriftliches von Schmidt, ein tolle Aufnahme Wehners, eine mit dem russischen Dissidenten Schtscharanski. Dem ins Arbeitslager Verbannten verhalf er 1986 in einem bizarren Tauschgeschäft zur Freiheit. Wäre der Jurist nicht ohnehin von seiner Bedeutung erfüllt gewesen, die hochkomplizierte Übergabe in Berlin hätte ihm seinen Retter-Status bescheinigt. Gerührt spricht Vogel von dem Regimekritiker, der beschwingt über den Ost und West scheidenden Mittelstrich der Glienicker Brücke hüpfte.

Vielleicht rächte sich nach der Wende an Vogel, stets die Sphinx aus Friedrichsfelde geblieben zu sein. Eine Unschärferelation war geradezu Bedingung des Amtes, „dieses Geschäft verträgt kein Geschrei“. Einer seiner drei Tageskalender hütete ausschließlich „Geheimes“. So musste es sein in Herrn Vogels Gewerbe, seit im August 1964 unter konspirativen Umständen die ersten Busse mit 70 Ausgelösten zum Notaufnahmelager Gießen rollten, darunter Hochbestrafte vom Aufstand des 17. Juni 1953. Laut Vogel mit ein Anlass, „den Freikauf zu intensivieren“. Den Häftlingen muss er als Lichtgestalt erschienen sein, „es war so ruhig, da hörten Sie ’ne Stecknadel fallen“.

Ave-Maria

„Vielleicht je fünf Leute“ hüben und drüben hätten die Details gekannt, darunter die Minister für Gesamtdeutsche Fragen, Staatssekretär Ludwig Rehlinger und der West-Berliner Anwalt Jürgen Stange. Wieder und wieder hätte er, berichtet Vogel, Entlassenen ins Gewissen geredet. „Sie haben in Karl-Marx-Stadt fragende Augen hinterlassen.“ Wenn sie denen helfen wollten, mögen sie schweigen über das kleine Wunder, das ihnen widerfahren war. So sei seine Rede gewesen. „Ich wusste ja, was auf dem Spiel stand.“ Kaum dass das Geschäft mit dem „Pankow-Regime“ ruchbar wurde, kritisierten Medien den „schrecklichen Sklavenhandel“.

Mag sein, Vogel bringt heute die eigene Geschichte auf einen Stand, der sich besser deckt mit den Erfordernissen des wiedervereinigten Landes. Er würde gern als Lotse gesehen, der tapfer allen an ihn herangetragenen Versuchungen auswich. So wahr ist, dass Honecker auf seine Gefolgschaft zählte (und der Anwalt geschmeichelt Orden und Würden annahm), es ist auch wahr: Der Paradiesvogel hat ein Helfersyndrom, ein starkes Bedürfnis zum Aussöhnen. Fast wäre der deutsch-deutsche Missionar ja Priester geworden. Flüchten wäre für ihn oft leichter gewesen als standzuhalten für eine Sache, bei der sich hinter jeder Häftlingsnummer Angst, Elend, Verlorenheit verbarg. Über die Jahre sah er mehr Verzweiflung bei Eingesperrten, mehr Freudentränen bei Entlassenen als einem einzigen Leben erträglich ist.

Der sendungsbewusste Sohn eines Dorfschullehrers aus Niederschlesien war für das Grenzgängerische prädestiniert. Hier die Klassenjustiz, da sein streng katholischer Glaube. Honeckers „persönlicher Beauftragter“ in humanitären Angelegenheiten zählte zur Machtelite des atheistischen Staates, überlegte jedoch keine Sekunde, der Kirche abzuschwören. Bei der Trauung ließ er das Ave-Maria erschallen. Wahrscheinlich suchte er in der Religion nach einem Sinn, den er jenseits von Eden, im Paradies der Werktätigen, nicht fand.

Der Pensionär kennt die Argumente rauf und runter, die heute dem Häftlings-Frei- kauf gelten. „Die Sichtweise“, meint Vogel mäßig begeistert, „wird immer unterschiedlich sein“. Es kursiert sogar die These, das Milliarden-Ding sei die größte Stasi-Verschwörung gewesen, um dem Hauptfeind D-Mark abzupressen, da man wusste, die reichen Vettern aus Dingsda, Bonn, würden aus Gefühlsduselei schon blechen. Er selbst verlegt sich im Für und Wider darauf, „das Urteil wird die Geschichte sprechen“.

Vogel dankt seinem Herrgott, „ich habe Erfüllung erfahren“. Verbitterung stünde einem Frommen nicht gut zu Gesicht. „Ich bin entschlossen, in der Gegenwart zu leben, das zu nutzen, was mir noch bleibt“. Er pflegt den Stoizismus gemäß Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“. Die schenkte ihm Helmut Schmidt beim Besuch in der U-Haft. „Moment, hier ist das Buch“, mit Einmerker auf Seite 177. Da steht: „Wirf die Meinung hinaus, und du bist gerettet! Wer kann dich da hindern, sie hinauszuwerfen.“

Jürgen Schreiber

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