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Kultur: Der Asphalt lebt

Das Dokumentarfilmfestival im schweizerischen Nyon

Als bei der 1. Mai-Demonstration in der Genfer Fußgängerzone ein Häuflein aufrechter Kämpfer die „Bandiera Rossa“ anstimmte, lief auf dem Dokumentarfilmfestival im nahe gelegen Nyon gerade ein Film, der sich mit der finstersten Seite des untergegangenen Staatssozialismus beschäftigte. „La Décomposition de l’Ame“ (Die Zersetzung der Seele) nennen Nina Toussaint und Massimo Iannetta ihr Projekt, mit dem sie den Kontroll- und Zerstörungwahn der Staatssicherheit filmisch rekonstruieren. Die ästhetischen Mittel: lange Kamerafahrten durch die Interieurs des ehemaligen Stasigefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen. Im Off-Ton dazu Passagen aus den „Vernehmungsprotokollen“ von Jürgen Fuchs. Als Führer zwei ehemalige Häftlinge. Operative Zersetzung – so nannten die Machthaber ihr Vorhaben, Staatsfeinde durch gezielte Erniedrigung psychisch zu zerstören. Der Film versucht, diese Prozesse räumlich und menschlich zu rekonstruieren. Dabei beharrt die Kamera so heftig auf der Materialität der kleinbürgerlich spießigen Innenausstattung der Behörde, dass sogar Blümchentapeten und Gardinen ein unheimliches Eigenleben zu beginnen scheinen.

„Visions du réel“ heißt das seit neun Jahren von dem engagierten Jean Perret geleitete Festival in dem idyllischen Städtchen mit Mont-Blanc-Blick und Strandpromenade. Das ist emphatisch gemeint: Hier glaubt man an die Wirklichkeit und auch daran, dass ihr mit Filmen beizukommen ist, wenn man es nur richtig anstellt. Ein Beweis, wie wenig es braucht, um sehr viel zu erzählen, liefert Victor Kossakovski mit „Tishe!Hush!“ (Leise!). Man muss nur im ganz Kleinen anfangen. Kossakovski hat die Videokamera aus dem Fenster seiner Petersburger Wohnung gehalten und aufgenommen, was auf der Straße passiert. Viel ist das nicht, und es wird doch immer mehr, bis es am Schluss einen ganzen Roman mit Haupt- und Nebenfiguren ergibt. Montiert hat der Regisseur sein Material musikalisch, sein Hauptthema ist ein Bautrupp, der mit Ausdauer und unter Einsatz verschiedenster Gerätschaften immer die gleiche Stelle wieder aufgräbt. Drumherum Betrunkene und Liebende, Brutalität und Zärtlichkeit. Und eine alte Frau, die Schnee sammelt und ihn in Einkaufstaschen fortträgt.

Tatort Plattenbau

„Tishe!" lässt aus fast nichts eine ganze Welt enstehen, bei der selbst der nächtliche Asphalt zu leben beginnt. Eine melancholisch schmunzelnde Parabel über die Mühen des Lebens, die als Metapher auf das postsowjetische Russland zu lesen ist. Auch die Berliner Dokumentaristin Alrun Goettes reist in den postsozialistischen Alltag, aber eher auf klassische Weise. „Die Kinder sind tot“ begibt sich in eine Plattenbausiedlung nach Frankfurt/Oder, wo vor einigen Jahren eine junge Mutter zwei Kleinkinder allein in der Wohnung zurückließ und zu ihrem Freund ging. Als sie nach zwei Wochen zurückkam, waren die Kinder verdurstet. Ein Verbrechen, das damals den Volkszorn aufs Hässlichste hochkochen ließ. Alrun Goette knüpft genau hier an. Ihr Film beginnt mit einer Szene, in der die Beschuldigte, das Gesicht unter einem Tuch verborgen, wie ein gehetztes Tier unter den Kamerablitzen der Presse zur Anklagebank getrieben wird. Später hat sich die Regisseurin mehrfach mit ihr im Gefängnis getroffen. Doch auch die Nachbarn kommen zu Wort, die die Hilfeschreie der Kinder überhört haben. Die Mutter, die davon überzeugt ist, ihrer Tochter alles gegeben zu haben, und damit doch nur Fernseher und CD-Player meint, die Liebe und Zuneigung ersetzen sollen. Die Szenen: ein bedrückendes Konglomerat aus Einsamkeit, Dumpfheit und Verdrängung. Ein emotionaler Abgrund, der weniger postsozialistisch gegründet als spezifisch deutsch zu sein scheint. Fragen stellt dieser Film viele, Antworten suchen müssen wir selbst.

Nach dem Brandanschlag

Andere Filme reden sich die Seele aus dem Leib, um zu beweisen, was sie doch von vorneherein voraussetzen. „Tot in Lübeck“ etwa von Lottie Marsau und Katharina Geinitz rollte den Prozeß um den Brandanschlag auf ein Lübecker Asylbewerberheim noch einmal auf, bei dem 1996 zehn Menschen ums Leben gekommen sind. Schon nach den ersten Sätzen und Bildern ist klar, dass die Filmemacherinnen der offiziellen Version – übrigens völlig zu Recht – nicht glauben. Und bald wird noch deutlicher, dass es für uns Zuschauer keine Überraschungen geben wird in diesem Film, der seine suggestiv aufbereiteten Thesen mit Szenen des Kabarettisten Dietrich Kittner illustriert, die vor allem jenes Publikum erheitern dürften, das sich sowieso als staatskritisch deklariert.

Die Vergänglichkeit ist der naturgegebene Stoff der Filme, schließlich verlieren sie sich selbst immer wieder unwiderruflich an die Zeit. Speziell der Dokumentarfilm ist immer auch konkrete Vergegenwärtigung des Verlusts und der vergehenden Zeit. Vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb der Tod in vielen Filmen als Thema zumindest mitschwingt. Ganz ausdrücklich und direkt nähert sich die finnische Regisseurin Kiti Luostaminen in „The Face of Dead“ dem Sterben. Luostaminen hat sich als Praktikantin in eine Sterbeklinik für Krebskranke begeben, um dem Tod ganz aus der Nähe bei der Arbeit zuzusehen. „The Face of Dead“ hat grandiose Momente, etwa wenn die Regisseurin wiederholt ein Skelett in Szene setzt, um das memento mori auch sinnlich anschaulich werden zu lassen.

Doch der Versuch einer tabufreien und nüchternen Aufklärung führt schließlich in die Ernüchterung und den Kitsch. Auch Mike Hoolblooms „Imitation of Life“, eine kunstvoll konstruierte vielschichtige Montage aus gefundenen und inszenierten Bildern, beschäftigt sich mit unserem Verschwinden – in den Bildern, die wir und andere sich von uns und der Welt machen. Auch hier steht der Tod unübersehbar im Raum. Doch erklärt wird nichts. Nur manchmal meint man, einen Engel vorbeifliegen zu sehen oder vielleicht eine verirrte Seele. Vielleicht ist das Kino ja die letzte Zuflucht des Religiösen. In Nyon sah es jedenfalls so aus, als täte restlose Aufklärung ihm nicht gut.

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