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Unter Tschechows Einfluss. Die Schriftstellerin und Psychologin Helga Schubert

© picture alliance/dpa/Frank Hormann

Der Barmherzige: Helga Schubert über Anton Tschechow

In einem zutiefst persönlichen Essay berichtet die Schriftstellerin, wie ihr die Erzählung „Gram“ das Leben rettete

Von Gregor Dotzauer

Wer immer behauptet, Literatur habe ihm schon einmal das Leben gerettet, muss sich vorsehen. Das eskapistische Tor zum Kitsch steht meist gefährlich offen, während zur Kunst nur eine winzige, schwer erkennbare Pforte führt. Es braucht, um den Unterschied auf eine Formel zu bringen, nicht mehr Jenseits, sondern mehr Diesseits, nicht mehr falsche Erlösungsfantasien, sondern allenfalls eine „Musik der Barmherzigkeit“, wie sie Sean O’Casey in den Werken von Anton Tschechow hörte.

Helga Schubert war neun Jahre alt, als sie dieser Musik in Tschechows Kinderbuch „Kaschtanka“ zum ersten Mal begegnete. Und sie war eine junge Ostberliner Studentin, als sie beschloss, ihren betrügerischen Mann in die Wüste zu schicken und den drei Wochen alten Sohn künftig alleine aufzuziehen. In dieser Situation las sie zum ersten Mal „Gram“, eine Geschichte des mit 25 Jahren nur wenig älteren Tschechow über einen von seinen Fahrgästen immer wieder gedemütigten Petersburger Kutschers. Der arme Kerl hat nach der Frau gerade auch noch seinen Sohn verloren, doch niemand will von seinem Unglück hören. Am Schluss wird das Pferd zum geduldigen Zuhörer seines Leids.

„Ich las ,Gram‘ über einhundert Male“, gesteht Helga Schubert. „Ich war in meinem 83-jährigen Leben oft in Situationen, die mir aussichtslos erschienen: Wenn ich dann diese Geschichte hervornahm, half sie mir, nicht in Selbstmitleid zu versinken und nicht in Aggression gegen mich zu geraten. Sie half mir, den kleinen lebensrettenden Schritt vor

dem Abgrund zurückzuweichen.“ Aber es bleibt in ihrem Essay nicht beim Gefühligen. Absatz um Absatz und manchmal Satz für Satz geht sie dem Geheimnis seines so kühlen wie anrührenden Erzählens nach.

Im Bewusstsein, mittlerweile fast doppelt so alt zu sein wie der 1904 44-jährig in Badenweiler gestorbene Autor, lässt sie ihr Leben mit Tschechow Revue passieren. Wie sie 1976 mit einem Brief von Christa Wolf in der Hand, den sie dem Dissidenten Lew Kopelew übergeben sollte, nach Moskau reiste, aber erst fünf Jahre später, als Kopelew schon im Westen war, die Tschechow-Orte in Moskau, Melichowo und Jalta besuchen konnte.

Nie sei es ihr Tschechow gewesen, klagt Helga Schubert einmal, „immer der der anderen. Ich kam mir vor wie ein Eindringling in den Kreis Erwachsener: Thomas Mann, Natalia Ginzburg und auch Peter Urban standen um ihn.“ Mit diesem zutiefst persönlichen Essay, der zugleich prägnant Tschechows Welt einführt, leistet sie diesen Großen nun von gleich zu gleich Gesellschaft.

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