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Kultur: Der böse Gott von Manhattan

Das Stück der Saison – und ein Stück vom 11. September: Neil LaButes „Tag der Gnade“ als deutschsprachige Erstaufführung am Deutschen Theater Berlin

Ein Mann, eine Frau, eine Wohnung in Manhattan. Ein heimliches Liebesverhältnis, Lebenslügen. Die Frau ist älter als der Mann und seine Chefin. Ein Telefon und ein Datum: New York, am 12. September 2001. Der Tag danach.

Neil LaButes Dramen – man glaubt es kaum – folgen streng der Aristotelischen Ordnung von Raum, Zeit und Handlung. Sie kreisen um Begriffe wie Schuld, Sühne, Verantwortung. Das hat es im Theater (seit Sartre und Camus?!) lange nicht gegeben. Vielleicht erklärt sich dadurch der Erfolg des 43-jährigen Amerikaners und bekennenden Mormonen. Er versetzt sich derart tief und gründlich in die Amoralität seiner Figuren, wie es nur einem ausgewachsenen Moralisten gelingen kann. Diese Stücke sind präzise wie ein Flugschreiber.

Der „Tag der Gnade“ (The Mercy Seat, im Dezember 2002 in der Regie des Autors am Off-Broadway uraufgeführt) gilt schon jetzt als Renner der Saison. Nach der deutschsprachigen Erstaufführung am Deutschen Theater Berlin folgen Produktionen in Hannover, Zürich, Wien und München. Das Theater will auch wieder moralische Anstalt sein? Mit „Bash“ hat LaBute die deutschsprachigen Bühnen erobert: drei Einakter, in denen die Protagonisten entsetzliche Verbrechen beschreiben, die sie gleichsam in Trance begangen haben. Wie Ödipus: Das Ich als Fremder. Am „Tag der Gnade“ eröffnet sich dem Mann die Vision einer neuen Existenz. Er könnte sich totstellen, seine Ehefrau und Kinder im Glauben lassen, er sei beim Einsturz der World Trade Tower gestorben – und mit der Geliebten aus New York verschwinden, als lebender Leichnam.

Von der im Chaos versinkenden Außenwelt erfährt man scheinbar fast nichts. Die Jalousie ist heruntergelassen, der Fernseher schnell ausgeschaltet auf der Bühne des Deutschen Theaters. Es ist, als wäre die Katastrophe von 9/11 auf obszöne Weise abwesend – unbegreiflich. Das erzeugt einen ungeheuren Druck auf die Zelle, in der sich Ben und Abby gegenüberstehen wie zwei Betrüger, denen eine große Summe Geldes in den Schoß gefallen ist und die nun nicht weiterwissen. Frank Heibert hat das Stück so fabelhaft übersetzt, dass man sich als Zuschauer in New York wähnt – oder an einem ganz anderen, weit entfernten Punkt der Welt. LaButes Geniestreich: ein Stück über den 11. September, das die relative Nähe und die relative Distanz des Einzelnen zu dem Terrorakt, zu den vielen Tausend Toten umfasst. Die Ohnmacht. Die Verstrickung von kollektiver Tragödie und individueller Sehnsucht nach Glück. Und Glück heißt: purer Egoismus . . .

Der Tag der Premiere am Deutschen Theater sollte der Tag sein: der 12. September. Der Tag, an dem das Stück spielt. Eine Hilfskonstruktion; aber das sind Gedenktage irgendwie immer. Regisseur Thomas Schulte- Michels hat sich selbst das schwarz-weiße Interieur ausgedacht. Ein ins Abstrakte gehender Freiraum, den Ben und Abbie mit den Mitteln einer offenbar im Schwinden begriffenen Leidenschaft füreinander verteidigen. Eine klaustrophobische Situation, die die Intimität erstickt.

Sie reden, sie fragen, sie quälen sich, und man könnte die 90-minütige Aussprache als einen einzigen, folterartigen Verbal-Fick begreifen. Hat Schulte-Michels deshalb einen so weichen Boden auf die schräge Bühne gelegt, in der Abbie mit ihren Absätzen wie in einem Morast versinkt? Die Polsterung schluckt viel Energie, und wenn, wie leider häufig der Fall, auch noch mit Ausdauer nach hinten gesprochen wird, dann ist es schade um den „Tag der Gnade“, die Inszenierung beraubt sich selbst um eine noch stärkere Wirkung.

Schulte-Michels hat in einem entscheidenden Punkt Recht. Er lässt Dagmar Manzel und Robert Gallinowski, das verbotene, unmögliche Paar, in der Stille spielen. In der unheimlichen, grausigen Stille nach dem Feuersturm. Es gibt keine hysterischen Ausfälle, keine Schreierei; darüber sind die beiden wohl schon hinaus. Und wie groß wäre die Versuchung, Stimmbänder und Körper aufeinander loszujagen! Nein: eine tolle Dagmar Manzel (in New York spielte Sigourney Weaver die Rolle) eröffnet die Inquisition mit einem ironischen, fast süffisanten Ton doch wieder aufkommender Geilheit. Er soll endlich den „großen Anruf“ machen. Sie meint: zu Hause anrufen, der Ehefrau sagen, dass er eine andere liebt. Abbie bewegt sich in einem Panzer aus Charme und – verhaltener Wärme. Von Robert Gallinowsk sieht man eine ganze Weile nicht sehr viel . Er liegt, er lümmelt sich auf einem knautschig-weichen Sofa. Ein Weichei. Ein lieber, etwas ungezogener Junge, der niemandem wehtun will und umso verletzender ist.

Gallinowski spielt den Ungezogenen, das Kind, in einem Maße aus, dass man sich irgendwann zu fragen beginnt, was Abbie an diesem Feigling findet. Die gespielte Unschuld aus den Suburbs, das kann es wohl nicht ganz sein. Sie sagt, dass er sie nicht befriedigt. Dieser Monolog der Manzel ist schlicht atemberaubend. Bitter und komisch. Was ihr so alles durch den Kopf geht, wenn Ben sie von hinten nimmt: Einkaufslisten für Weihnachtsgeschenke etc. Er schaut sie nie an, wenn sie sich lieben. Weil sie entweder kriechen oder knien muss vor ihm. Doch offenbar war ihr das lange Zeit nicht nur unangenehm. LaBute ist in seinen Stücken immer ziemlich detailliert, wenn es um Sexualpraktiken oder Tötungsarten geht.

Abbie dominiert – nicht ohne zart und fürsorglich zu sein – den hypernervösen Wortwechsel. Bis Ben sie mit dem Satz, er müsse sich zwischen ihren Schenkeln und den Herzen seiner kleinen Töchter entscheiden, ins Mark trifft. Er macht ihr klar: Du bist eine Karrierefrau, du weißt nicht, was es heißt, Kinder zu haben. Und sie muss kapieren, warum er nur so stammelt und nach Ausflüchten sucht. Der „große Anruf“, den er am Morgen des 11. September endlich hinter sich bringen wollte, hätte nicht der Gattin gegolten. Dann prallten die Flugzeuge auf, Ben glaubte an eine schicksalhafte Wendung.

The Mercy Seat, der Gnadenthron, ist im Alten Testament der Deckel der Bundeslade: das Allerheiligste. Ort möglicher Sühne und Versöhnung. LaBute scheut nicht die letzten und die größten Dinge. Er sucht sie auf engstem Raum: im Banalen. Das macht ihn groß. Und Ben und Abbie werden sich wieder treffen. Und sündigen. Wenn Neil LaBute denn wirklich glaubt, dass Ehebruch Sünde ist.

Wieder am 19. und 26. September.

Rüdiger Schaper

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