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Kultur: Der denkende Ozean

Flugplatztheater: Martin Wuttke erforscht „Solaris“ in Neuhardenberg

Immer Ärger mit Doktor Sartorius. Der Mann, ein schlurfender Zausel mit weißem Gottvater-Vollbart und Arztkittel, ist offenbar wahnsinnig geworden. „Was ist mit Sartorius?“, rufen seine Mitspieler immer wieder, doch die Antwort bleibt dunkel, wie so vieles an diesem Abend. Dr. Sartorius (Christophe Kotanyi), angeblich ein begnadeter Astrobiologe, müht sich mit seltsamen Experimenten ab, nuschelt unverständliches Zeug und lässt niemanden in sein Labor, eine Art Gewächshaus. Es steht auf einer Raumstation, irgendwo auf einem gespenstischen Planeten namens Solaris.

Der erste Reisende, der diesen Stern auf seinen Expeditionen mit den Mitteln der Kunst erforschte, war der polnische Schriftsteller Stanislaw Lem, der dem von ihm erfundenen (oder gefundenen, wer weiß das schon) Planeten vor vier Jahrzehnten einen Science-Fiction-Roman gewidmet hat. Andrej Tarkowski verfilmte das Buch 1972 und schuf mit „Solaris“ einen Klassiker des Genres. Jetzt versucht Martin Wuttke, den Stoff fürs Theater zu adaptieren. Und weil ein normales Theater für Sonnensysteme und Paralleluniversen einfach zu klein ist, hat Wuttke seine Expedition ins Weltall in einen leerstehenden Flugzeug-Hangar mitten im schönsten Brandenburg verlegt – was von Berlin aus gesehen ja schon ziemlich outer space ist. Schon während der Anfahrt ertappt sich der Theaterreisende dabei, wie er immer wieder die Titelmelodie einer alten Fernsehserie summt und etwas von „Brandenburg – unendliche Weiten“ murmelt.

In Neuhardenberg angekommen ahnt man, dass es im Weltall auch nicht anders zugeht als an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Eine Beobachtung, die zu der Vermutung Anlass gibt, bei Castorfs Theater könnte es sich um eine Art Vorposten außerirdischer Intelligenz handeln. Man sitzt auf Tribünen im Hangar eines früheren NVA-Flugplatzes und blickt durch die geöffneten Tore in den Abendhimmel. Grün und weiß beleuchtete und mit allerlei Gerümpel vollgemüllte Gewächshäuser stehen verstreut in der Ebene. Was in ihnen geschieht, entzieht sich unserer unmittelbaren Wahrnehmung. Verzerrt, vergrößert und in Bruchstücken auf drei große Leinwände übertragen, können wir es aber doch sehen. Das ist einerseits vertraute Volksbühnen-Praxis, passt aber hervorragend zum erkenntnistheoretischen Kern von Lems Roman: Man kann von Welt und Weltall nur erkennen, was die eigenen Sinnesorgane und das eigene beschränkte Denken einem wahrzunehmen erlauben. Höheren oder nichtmenschlichen Formen von Intelligenz, wie sie auf dem Planeten Solaris herrschen, stehen die Menschlein mit ihrer irdischen Rationalität hilflos gegenüber.

Das muss auch der neu auf Solaris eingetroffene Psychologe Kris Kelvin erleben. Plötzlich hat er dauernd mit seiner früheren Geliebten zu tun, obwohl sie vor zehn Jahren Selbstmord beging. Ihre Erscheinung ist die Materialisation seiner Gedanken, und in Neuhardenberg wird sie von Jeanne Balibar und Inga Busch gleich zweimal auf eine Weise verkörpert, die ahnen lässt, dass Kelvins Gedanken ziemlich lüstern sein müssen.

Fedja van Huet (von der legendären Theatertruppe Hollandia) spielt diesen Kelvin als stoischen Rationalisten, der allmählich durchdreht: „Diese permanenten Auferstehungen gehen mir langsam auf die Nerven.“ Schuld an diesen Erscheinungen ist ein geheimnisvoller Ozean, eine riesige plasmatische Maschine. Volker Spengler, ein Mann wie ein Puddinggebirge, spielt die brodelnde Masse: ein Meer, das denkt. Eine typgerechte Rollenbesetzung, ahnte man bei Spenglers Auftritten doch schon immer, dass es sich bei ihm um eine Art anorganischen Morast handelt, der seine eigene Rationalität produziert. Spengler tobt im gelbem Parka und mit Hippie-Perücke an den Glashäuschen vorbei und tänzelt als Abgesandter eines seltsamen Eingeborenstammes halbnackt über das Flugfeld. Am liebsten aber wälzt er sich auf einem Bett, um ab und zu existenzielle Rülpser und hübsche Zitate auszustoßen: „Dunkel ist das Weltall, Genossen, sehr dunkel...“ Jetzt wissen wir, dass auch der Ozean auf Solaris Heiner Müller gelesen hat.

„Volker...“, rufen die anderen, „Volker ist der Repräsentant einer ganzen Spezies“. Martin Wuttkes Inszenierung, Teil des Sommerfestivals der Stiftung Schloss Neuhardenberg, mag etwas wirr sein. Ein lustiger, unverzichtbarer Beitrag zur Spengler-Forschung ist sie allemal.

Flugplatz Neuhardenberg. Heute und morgen, 2. – 5.September, 20.30 Uhr. Bustransfer ab Berlin Busbahnhof um 18.30 Uhr. Infos: www.schlossneuhardenberg.de

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