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Kultur: Der erste Höhepunkt im Leben

Der Höhepunkt des Romans ist ein Höhepunkt, und er passiert auf Seite 81.Das Mädchen ist nackt, und der Erzähler, der Benjamin heißt wie der Autor, liegt unter ihr.

Der Höhepunkt des Romans ist ein Höhepunkt, und er passiert auf Seite 81.Das Mädchen ist nackt, und der Erzähler, der Benjamin heißt wie der Autor, liegt unter ihr."Ich fühle mich gut.Als hätte ich zwanzig Colas getrunken oder so.In meinem ganzen Körper kribbelt es.Am meisten in meinem Schwanz ...Fasse Marie an die Hüften.Umarme sie ganz.Wir knutschen.Sie stöhnt.Ich atme tiefer.Marie reitet und reitet.Wir sind gleich da." Und ein paar Zeilen weiter: "Dann bin ich da.Ich spritze ab.Adrenalin wird durch meinen Körper gepumpt.Ich fühle mich frei.Höre das Zwitschern von Vögeln.Das Plätschern von Wasser.Einen Sturm.Mein Körper zittert.Irgendwie ist das cooler als alles andere.Ich weiß auch nicht warum.Ich finde es crazy."

"Crazy" lautet auch der Titel des Debütromans von Benjamin Lebert, und er ist das genaue Gegenteil davon.Kein bißchen verrückt oder aufgedreht, dabei wäre das kein Wunder: Der Autor war während des Schreibens so alt wie die Hauptfigur: gerade mal sechzehn.So hat "Crazy", bevor es in den Buchläden richtig angekommen ist, einen Aufruhr ausgelöst.Von "Spiegel" bis "Frankfurter Allgemeine Zeitung": Es scheint, als habe sich der Titel des Buchs auf die Stimmung der Kritiker übertragen.Ein Sechzehnjähriger! Als Buchautor! Crazy! Kein Wunder, daß die Fernsehsender Schlange stehen.Bei aller Sensation: Es wäre schade, wenn dabei das Buch in den Hintergrund geraten würde.Denn "Crazy" ist ein gelungenes Debüt, es bereitet Vorfreude auf alles, was wir noch von Benjamin Lebert lesen werden.

Der Ich-Erzähler in "Crazy" berichtet von den üblichen Dingen im Leben eines Jugendlichen, dem noch nichts Aufregendes passiert ist, der wartet, daß es endlich losgeht mit den Frauen, überhaupt aller Art von Abenteuer.Noch aber muß er mit der Gegenwart zurechtkommen.Die Eltern haben sich getrennt, seine Leistungen in der Schule sind schlechter geworden, und so kommt es, daß Mama und Papa ihm vorschlagen, auf ein Internat zu wechseln.Dort würden viele Probleme verschwinden.Vor allem der Sechser in Mathematik.

Angekommen findet der Junge schnell Freunde: "Janosch, der dicke Felix, der dünne Felix, Troy und auch der kleine Florian aus der Siebten, den alle nur Mädchen nennen", schreibt Lebert.Weil dort nicht viel passiert, werden Halbweisheiten ausgetauscht und nachts in den Mädchentrakt geklettert (wo es auf Seite 81 zum ersten Höhepunkt seines Lebens kommt).

Wie das beschrieben wird, in knappen Hauptsätzen und Dialogen, die Drehbuchreife haben, das ist schon eindrucksvoll.Im Gegensatz zu den meisten Debütromanen der U30-Nationalmannschaft der deutschen Literatur macht Lebert nicht den Fehler, Popkultur zwischen zwei Buchdeckeln einzuklemmen.Die Gespräche der Freunde drehen sich nicht um die angeblich richtigen Turnschuhe, die richtigen Filme, die richtigen Platten.Hier geht es ums Erwachsenwerden, und das hat eben weniger mit der Wahl von Turnschuhen zu tun als vielmehr mit der Hoffnung, eines Tages das Leben besser zu verstehen.

Mit dem ihm unterstellten Schlüssellocheffekt - ein Sechzehnjähriger schreibt, wie sich Sechzehnjährige wirklich fühlen! - geht der Autor souverän um.Weil es seine Figuren auch im wahren Leben gibt, täuscht der Autor Authenzität vor - und erfindet doch das meiste hinzu.Er könne gar nicht über alle Sechzehnjährigen schreiben, sagt Lebert.Dafür kenne er dann doch zu wenige.

Der Aufruhr um "Crazy" findet aber nicht nur wegen seines Alters statt, sondern auch wegen seiner Familie: von den Großeltern über den Vater bis zum Patenonkel, allesamt Journalisten.Wie der Benjamin unter den Leberts zu seinem Buchvertrag kam, ist allerdings banaler.Eines Tages meldete sich eine unbekannte Telefonstimme bei einer Redakteurin von "jetzt", dem Jugendmagazin der "Süddeutschen Zeitung", und schlug eine Geschichte vor.Die wurde zwar abgelehnt, eine zweite, überschrieben mit "Warten auf die Eingebung", dann aber gedruckt.Leser und Redaktion waren begeistert: "Der schreibt ja wie Kishon." Das war vor eineinhalb Jahren.Ein Schriftsteller erzählte davon seinem Verlag, der teilte die Begeisterung.Nun liegt "Crazy" in den Läden.

Der Roman ist eigentlich eine Sammlung von mehreren Kurzgeschichten, und die wird zusammengehalten durch Leberts Begabung, genau hinzuschauen.Erst die Details beschreiben, dann erst eine Meinung bilden - und nicht umgekehrt wie die meisten anderen jungen Autoren.Die Drehbuchreife der Dialoge ist auch anderen aufgefallen: Die Filmrechte wurden gerade verkauft an die Produzenten des Oscar-nominierten "Jenseits der Stille" und des Hackerfilms "23".Hans-Christian Schmid, der Regisseur von "23", soll "Crazy" verfilmen.

Die Medienmaschine rollt also an mit ihren Begleiterscheinungen, und die Schriftstellerin Elke Heidenreich bittet vorsorglich im "Spiegel" seinen Verlag, er möge "diese Pflanze" schützen.Benjamin Lebert, der schon seine Kindergeburtstage immer am liebsten selbst moderierte, genießt die Aufmerksamkeit.Auch das hat er mit seiner Romanfigur gemeinsam: Das Warten auf das Abenteuer Leben hat nun ein Ende.In den ersten drei Tagen hat sich "Crazy" bereits 10 000 Mal verkauft, der Verlag druckt schon die zweite Auflage.Die Gefahren des schnellen Verbrennens im Medienfeuer sind allerdings erkannt, auch vom Autor selbst.Der macht gerade, was viele Siebzehnjährige tun, die gerne schreiben: ein Praktikum.Er schreibt auch wieder in "jetzt", allerdings meist unter Pseudonym.Bei so viel Scheinwerferlicht kann der Junge ein bißchen kühlenden Schatten auch ganz gut gebrauchen.

CHRISTOPH AMEND

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