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Kultur: Der Geist von Weimar, das Erbe von Buchenwald und die Berliner Republik

Dreimal in diesem Jahrhundert ist die öffentliche Berufung auf Goethe und die Weimarer Klassik mit einem epochalen Zeitenwechsel in der Geschichte der Deutschen verbunden gewesen: 1919 mit Friedrich Eberts Rede auf der Nationalversammlung in Weimar, seiner Beschwörung des "Geistes von Weimar" als Kontrapunkt zum "Geist von Potsdam" nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs. 1932 mit der Feier von Goethes 100.

Dreimal in diesem Jahrhundert ist die öffentliche Berufung auf Goethe und die Weimarer Klassik mit einem epochalen Zeitenwechsel in der Geschichte der Deutschen verbunden gewesen: 1919 mit Friedrich Eberts Rede auf der Nationalversammlung in Weimar, seiner Beschwörung des "Geistes von Weimar" als Kontrapunkt zum "Geist von Potsdam" nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs. 1932 mit der Feier von Goethes 100. Todestag am Vorabend der nationalsozialistischen Herrschaft, die mit dem Restaurieren des "Geistes von Potsdam" das Ende des von Ebert ausgerufenen "Geistes von Weimar" bedeutete. Und 1949 mit der Feier von Goethes 200. Geburtstag, die im Zeichen der Errichtung zweier deutscher Staaten stand.

Für das Goethejahr 1999 ist die Rede von "West-östlichen Goethe-Bildern" bereits ferne Vergangenheit. Welche politische und gesellschaftliche Deutung kann das Goethejahr 1999 haben? Gibt es so etwas wie eine allgemeine Orientierung an den Gedenkort Weimar und der ihm zugeordneten klassischen Literatur, oder zerfließt dieses Erinnern in eine karnevalistische Beliebigkeit, die bereits jetzt Züge des Überdrusses hat, die der Bemerkung Richard Alewyns von der "Massenflucht nach Weimar" angesichts der Goetherenaissance 1949 neue Aktualität verschafft?

Der Begriff einer Weimarer Klassik hat sich bekanntlich erst Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als Kennzeichnung einer überzeitlichen Norm der deutschen Literatur und zugleich als das geistige Zentrum der ideellen Geschichte der Deutschen durchgesetzt. Dieser Begriff ist das Ergebnis einer bereits vor Goethes Tod einsetzenden intensiven Diskussion um die Abgrenzung der Werke Goethes und Schillers gegen die gesamte zeitgenössischen Literatur - auch gegen die nachklassische Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Abgrenzung geschah zunächst in Auseinandersetzung mit der Romantik und wurde im Vormärz auf die Oppositionsliteratur ausgedehnt. Erst nach der gescheiterten Revolution von 1847/49 wurde das Bündnis zwischen Goethe und Schiller zur nationalen Basis eines die Bereiche Natur und Geschichte, Dichtung und Philosophie, Weltanschauung und Ethik umgreifenden Mythos. Verkörpert war dies im Doppelstandbild vor dem Nationaltheater in Weimar. Schon 1844 hatte Heinrich Laube davon gesprochen, dass die Nation "zwei Dichter in unauflösliche Nähe den einen zu dem andern gezogen, zwei Dichter, welche ganz voneinander verschiedene Naturen sind, welche weit auseinanderliegende Eigenschaften deutscher Nation in sich darstellen. Zusammen sind sie die vollständige Offenbarung deutscher Fähigkeit, und darum nennt man sie zusammen, und drückt mit dem verschlungenen Namen Schiller und Goethe das Höchste und Beste aus, dessen sich Deutschland rühmen kann." Vor allem die Goethephilologie des neuen Reiches hat nach 1871 diesen Mythos weiterentwiêkelt. Erst jetzt wird Goethes "Faust" zum Nationalgedicht der Deutschen, gemeinsam mit dem Nibelungenlied, das Flaggschiff der sich jetzt konstituierenden Germanistik.

Schon früh gab es Kritik an dieser Kanonisierung der Weimarer Klassik. So schreibt Karl Gutzkow 1860 in einem Aufsatz: "Schiller und Goethe drücken nicht das ganze Gebiet des dichterischen Schaffens aus, bezeichnen nicht die Bahnen, in denen allein die deutsche Literatur zu wandeln hat. Es gibt Notwendigkeiten im geschichtlichen Gang unserer Literatur, für welche sich weder bei Schiller noch bei Goethe der entsprechende Ausdruck findet." Er erinnert unter anderem an Jean Paul. Mit Gutzkows Einspruch beginnt eine Blickerweiterung auf die Vieldimensionalität der mit "den Klassikern" gleichzeitigen und ihnen folgenden Literatur. Den Anfang macht die Wiederentdeckung der Romantik, die eine wirkungsmächtige Renaissance erfährt. Wenig später entdecken Stefan George und sein Kreis Hölderlin, es folgten im Einflußbereich des Expressionismus Kleist und Büchner. Jede Wiederentdeckung war immer auch Teil einer ästhetischen und politischen Opposition gegen die Weimarer Klassik.

Der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs führten seit 1919 zu einer Radikalkritik am Wilhelminischen Klassikerkult. Entscheidend wurde die verspätete Entdeckung der europäischen Moderne im Roman und auf dem Theater, die der Krisenstimmung der Nachkriegszeit genauer entsprach. Es gab jedoch auch eine völkische und kryptofaschistische Opposition gegen Goethe, deren Wortführer sich auf Herder und die konservativen Autoren der Spätromantik beriefen und die humanistischen Ideale der Klassik durch einen neuen Kult des Irrationalen, des Blutes und der Nacht und die Ideale von Potsdam überwinden wollten. Eine wichtige Rolle spielte jetzt Thomas Mann, der sein neues Bekenntnis zur Weimarer Republik zu verbinden suchte mit einer zeitgerechten Modernisierung des Goethebildes. Den völkischen Tendenzen einer rechten Romantik entgegnete er 1925: "Es ist für Deutschland nicht der Augenblick, sich antihumanistisch zu gebärden. ( . . . )Im Gegenteil ist es der Augenblick, unsere großen humanen Überlieferungen mit Macht zu betonen und feierlich zu pflegen." Wiederum war es Thomas Mann, der in seiner Festrede 1932 "Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters" die heraufziehende Gefahr des Jahres 1933 schonungslos benannte: "Der Bürger ist verloren und geht des Anschlusses an die neue heraufkommende Welt verlustig, wenn er es nicht über sich bringt, sich von den mörderischen Gemütlichkeiten und lebenswidrigen Ideologien zu trennen, die ihn noch beherrschen, und sich tapfer zur Zukunft zu bekennen."

Das Thema Weimarer Klassik und Nationalsozialismus ist längst ein Sonderforschungsbereich geworden, den nur noch wenige Spezialisten überblicken. Seit 1989/90 zeichnet sich ein radikaler Blickwechsel auf diesen Gegenstand ab. Als Nachtrag zum Goethejahr 1982 fand ein Jahr später im Schiller-Nationalmuseum in Marbach eine große Ausstellung "Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945" statt. Im Mittelpunkt standen drei sogenannte Klassiker: Schiller, Hölderlin und Goethe. Dass Goethe in dieser Aufzählung an letzter Stelle genannt wird, entspricht ziemlich genau der Bedeutung, die der Dichter während der NS-Zeit in der offiziellen Rezeption gehabt hat. Die Schwierigkeit, die das NS-Regime mit seinem Werk hatte, entspricht der Tatsache, dass aus dem Kreis der Parteielite nur einer, Baldur von Schirach, in einer erbärmlichen Rede 1937 in Weimar versucht hat, Goethe als Vorläufer des Nationalsozialismus zu reklamieren. Dennoch hat es natürlich zahlreiche Versuche der Gleichschaltung gegeben, daneben jedoch auch Versuche, in verschlüsselter Rede das humanistische Erbe Goethes und der Klassik zu bewahren, so etwa bei Paul Hankamer, Max Kommerell, Rudolf Alexander Schröder oder Eduard Spranger. Wenngleich Hitler Weimar häufig besucht hat, eine Stadt, die bereits seit Mitte der zwanziger Jahre eine Hochburg der Nazis war, hat er die Goethestätten gemieden und sich vornehmlich um seine Verehrerin Elisabeth Förster-Nietzsche gekümmert, die einflussreiche Verwalterin des Nachlasses ihres Bruders. Nicht Weimar war im "Dritten Reich" ein kulturpolitischer Kultort, sondern Bayreuth, München, Nürnberg und der Dom von Quedlinburg, die pseudoreligiöse Weihestätte der SS. Aus heutiger Sicht fällt auf, dass im Katalog der Marbacher Ausstellung der Name Buchenwald kaum erwähnt wird. Richard Alewyns Einleitung zu seiner Kölner Goethevorlesung vom Sommersemester 1949 wird zwar an einer Stelle zitiert, dort auch das Diktum "Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald. Darum kommen wir nun einmal nicht herum." Der damit in Erinnerung gebrachte Zusammenhang zwischen Deutscher Klassik und Menschenvernichtung im Dritten Reich erfährt jedoch keine weitere Erläuterung. Der radikale Blickwechsel auf unser Thema heute ist wesentlich dem Rückgriff auf dieses lange vergessene und verdrängte Diktum Alewyns geschuldet.

Die Goethefeier 1949 stand im Zeichen der gleichzeitigen Gründung zweier deutscher Staaten. Die Veranstaltungen in Ost und West waren geprägt durch eine beispiellose Goetherenaissance und dienten beiden Staaten zur kulturpolitischen Legitimation ihrer Gesellschaftsordnungen. In der DDR war der Goethekult bis zum Ende der sechziger Jahre ein Zentrum humanistischer Erbepflege, die der Lenkung durch die SED unterstand.

Weimar blieb der Austragungsort der Tagungen der Goethe-Gesellschaft und wurde in der Folgezeit, paritätisch besetzt, ein wichtiges Forum der gesamtdeutschen Goethediskussion, auch über den Mauerbau 1961 hinweg. Während in der DDR der Versuch unternommen wurde, die ästhetische Norm der Klassik mit der Praxis einer volkstümlich-realistischen Literatur zu vermitteln, blieb die Goethe- und Klassikrezeption im Westen vielfach ein akademisches und bildungsbürgerliches Reservat. Zudem war die Beschäftigung mit der Klassik hierzulande lange Zeit politikresistent. Nicht zuletzt diese Diskrepanz von Klassik und Moderne führte zur Goethe- und Klassikkritik Ende der sechziger Jahre.

1970 erschien in der Bundesrepublik die Untersuchung "Werther und Wertherwirkung" von Klaus Scherpe. Mit dieser Pilotstudie begann die Beschäftigung mit Goethe in den Einflussbereich von Rezeptionsgeschichte und Ideologiekritik zu treten. Ein Jahr später erschien der einflussreiche Sammelband "Die Klassiklegende", in dem sieben in den USA lehrende deutsche Germanisten sich kritisch mit dem überlieferten Bild der deutschen Klassik auseinandersetzten. Im Vorwort der Herausgeber Reinhold Grimm und Jost Hermand heißt es: "Es gehört nun einmal zum Wesen der Weimarer Hofklassik, dass hier zwei hochbedeutende Dichter die Forderung des Tages bewusst ignorierten und sich nach oben flüchten: ins allgemeinmenschliche, zum Idealisch-Erhabenen, zur Autonomie der Schönheit, um dort in Ideen und poetischen Visionen das Leitbild des wahren Menschentums zu feiern."

Das waren unerhörte Töne, die im Westen Deutschlands eine Diskussion entfachten und zu einer politisch orientierten Revision überlieferter Klassikerbilder beitrugen. Diese Töne drangen auch ins andere Deutschland und lösten zunächst heftige Proteste aus. Das Erscheinungsjahr der "Klassiklegende" war zugleich das Jahr des Regierungsantritts von Erich Honecker, das Jahr des VII. Parteitags der SED, das mit der Hoffnung auf eine Liberalisierung der erbedogmatischen Ära Ulbricht verbunden war. Es war zunächst eine Reihe von DDR-Schriftstellern, die an der Fassade des sogenannten "Klassikzentrismus" rüttelten . Wenig später erfolgte auch die Rehabilitation der bislang verschmähten und kritisierten Romantik. Es waren Schriftsteller wie Christa Wolf und Franz Fühmann, die der zögernd folgenden Literaturwissenschaft voranschritten.

Ein wesentliches Resultat der Debatten der siebziger Jahre war die Infragestellung des Normanspruchs der Klassik im Ensemble der deutschen Literaturgeschichte zwischen 1770 und 1830, der die beiden Nachkriegsjahrzehnte in beiden deutschen Staaten bestimmt hatte. In den achtziger Jahren folgte eine radikale Historisierung und Demokratisierung des Gegenstandsbereichs.

Gleichberechtigt stehen jetzt die Autoren der Romantik, der Aufklärung, der jakobinischen Parteigänger der Französischen Literatur und die großen Einzelgänger wie Jean Paul und Hölderlin den "Klassikern" Goethe und Schiller gegenüber. Dies entspricht den Kriterien einer für die achtziger Jahre repräsentativen Literaturgeschichte von Gerhard Schulz "Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration", deren erster Teil, die Jahre 1789 bis 1806 betreffend, 1983 erschienen war. Hier heißt es programmatisch im Vorwort, der Verfasser habe sich vor "aller raschen Aktualisierung " gehütet. "Wir sollten uns deshalb nicht scheuen, die Literaturgeschichte auch einmal wie ein Museum zu betreten." Das bedeutet nichts Geringeres als die Absage an die Zeit der Grabenkämpfe der siebziger Jahre.

Bereits Mitte der achtziger Jahre setzt sich in der Bundesrepublik ein neuer Begriff des Klassikers durch. Auslöser ist die "Bibliothek der deutschen Klassiker", die 1985 von dem neu gegründeten Deutschen Klassiker Verlag in Frankfurt am Main begründet wird. In dem aus diesem Anlass erschienenen Almanach des Verlages stellt Martin Walser die Frage "Warum Klassiker?" und beantwortet sie mit dem Satz: "Die uns beleben, die können wir brauchen, das sind Klassiker". Keine Rede mehr von einer durch autoritative Normen bestimmten Definition. Anything goes. Goethe und Schiller in einer Reihe mit Jakob Böhme, Annette von Droste-Hülshoff, Gottfried Keller, Georg Rollenhagen, Johann Gottfried Seume, Ludwig Tieck und Wolfram von Eschenbach. Dass sich neben die "Frankfurter Goethe-Ausgabe" gleichzeitig eine ebenso opulente "Münchner Goethe-Ausgabe" etabliert hat, zeigt den Weimarer Klassiker als absoluten Marktführer, zumal die Hamburger Ausgabe ihre Stellung als meistbenutzte Goethe-Ausgabe seit Jahrzehnten behauptet. Unter dem Gesichtspunkt der Editorik hat Goethe seine alles überragende Sonderrolle in einer bisher ungekannten Weise ausbauen können. Entspricht dies jedoch der tatsächlichen Einschätzung Goethes heute?

Eine vernichtend pessimistische Antwort auf diese Frage hat vor kurzem Joachim Fest anlässlich der Wiedereröffnung des Frankfurter Goethe-Museums gegeben. Der Titel seines Festvortrags lautet "Das Zerreißen der Kette" und meint das Zerreißen der Traditionskette, die die Weimarer Klassik mit der jeweiligen Gegenwart bislang verknüpft habe. "Aller Streit und generationenlanger Widerspruch hatten Goethe immer wieder in die Gegenwart geholt. Jetzt erstmals schien sich seine Sterblichkeit zu offenbaren." Am umfassendsten habe sich das Zerreißen der Kette in der Jugendrevolte der späten sechziger Jahre manifestiert "Es begann mit der Abschaffung des Literaturkanons an den Schulen und setzte sich fort über die Ausweitung des sogenannten Textbegriffs." Gleichzeitig löste sich das sogenannte Bildungsbürgertum, auf, und verlor seine normsetzende Führungsrolle.

Wie nimmt sich nun das Jahr 1999 im Lichte der Daten 1919, 1932, 1949 und 1982 aus? Was unterscheidet unsere Gegenwart von den bisherigen Goethe-Gedenkfeiern unseres Jahrhunderts, an dessen Ende wir stehen? Dieses Festjahr ist eine Doppelfeier, sie gilt dem 250. Geburtstag und der Ernennung Weimars zur Weltkulturstadt. Weimar als Weltkulturstadt scheint dem 250jährigen Goethe den Rang abzulaufen. Das ist im Vergleich mit den bisherigen Goethefeiern neu. Dass die Nationalversammlung der ersten deutschen Republik 1919 in Weimar tagte, war eher eine Notlösung gewesen, um den erwarteten Gegnern der neuen Verfassung in Berlin auszuweichen. Der Begriff Weimarer Republik ist also eigentlich ein Etikettenschwindel. Außerdem hatte die Stadt wenig mit dem von Ebert beschworenen "Geist von Weimar" zu tun. So konnte Thomas Mann während seines Besuchs in Weimar 1932 konstatieren: "Ganz eigenartig berühre die Vermischung von Hitlerismus und Goethe. Weimar ist ja eine Zentrale des Hitlerismus. Überall konnte man das Bild von Hitler usw. in nationalsozialistischen Zeitungen ausgestellt sehen. Der Typus des jungen Menschen, der unbestimmt entschlossen durch die Stadt schritt und sich mit dem römischen Gruß begrüßte, beherrscht die Stadt."

1949 stand Weimar ganz im Zeichen der ideologischen Inbesitznahme durch die neugegründete DDR, während hierzulande der Wiederaufbau des im Zweiten Weltkriegs zerstörten Geburtshauses Goethes zum Symbol der geistigen und wirtschaftlichen Restauration wurde. Mit der Wende wurden erstmals die in der DDR unter Verschluß gehaltenen Archive zur Geschichte Weimars der Forschung zugänglich. Sie zeigten ein anderes Weimar als das von der offiziellen Kulturpolitik hochstilisierte Zentrum eines sozialistischen Humanismus im Geiste der deutschen Klassik. Im Oktober 1995 wurde das von der neuen Stiftung der Weimarer Klassik initiierte Forschungsprojekt "Die völkische und nationalsozialistische Instrumentalisierung kultureller Traditionen in Weimar seit Ende des 19. Jahrhunderts" in Angriff genommen. Es war der Versuch, die jahrzehntelang verdrängte Schattenseite Weimarer Traditionspflege endlich kritisch aufzuarbeiten. Auch außerhalb Weimars ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Klassikerort Gegenstand einer fast täglich anschwellenden Literatur: Ein Beispiel dafür ist das Buch des amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson "Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar." Es geht Wilson um den Nachweis von Menschenrechtsverletzungen, an denen Goethe als Mitglied des Geheimen Consiliums beteiligt gewesen sei. Die Kritik am Politiker Goethe ist nicht neu. Neu ist die Schärfe, mit der der Autor die "politische Legende Weimar" als "die zentrale Ikone der deutschen Literatur" verabschieden zu können meint. Diese Akzentverschiebung hat in einer neuen Qualität der Aufarbeitung des Verhältnisses von totalitärer Gewalt und der Berufung auf den "Geist von Weimar" ihren Ursprung. Es gilt, sich einem Verdrängungsprozess zu stellen, der durch die lange verschwiegene oder heruntergespielte Beziehung zwischen Weimar und Buchenwald bestimmt war. Dabei hat nicht erst die Errichtung des KZ Buchenwald die deutschen Städte während der NS-Zeit mit "Todesrauch" überzogen, sondern bereits die Reichsprogromnacht 1938, so auch der Brand der Synagoge in Frankfurt am Main am 8. November, der anderen Kultstadt Goethes in Deutschland. Darauf hat bereits Dolf Sternberger in einem berühmten Artikel zur Diskussion über den Wiederaufbau von Goethes Geburtshaus im Aprilheft 1947 in der Zeitschrift "Die Wandlung" hingewiesen. Die augenblicklich zur Mode gewordene Weimar-Kritik ist eine maßlose Überschätzung dieser Stadt als dem alleinigen Zentrum des Goethe- und Klassikkults in Deutschland. Die reaktionäre Entwicklung dieser Stadt zum Kriterium einer Beurteilung der Werke der deutschen Klassik zu machen, bedarf keiner Widerlegung. Die Rezeptionsgeschichte eines historischen Phänomens ist kein Kriterium ihrer Beurteilung heute. Diese Werke leben und haben einen in die Zukunft gerichteten Appellcharakter aus der beständigen Erneuerung eines Perspektivwandels, dessen Träger Bürger sind, die sich auch weiterhin auf Bildung berufen können, ohne damit zum Klischee des "Bildungsbürgertums" zu gehören. Die gegenwärtige Aneignung der deutschen Klassik kann jedoch nicht bei Null beginnen, sondern hat Teil am Schuldzusammenhang jedweder Überlieferung, also auch an der Überlieferung Weimar.Karl Robert Mandelkow ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Er hat bei C.H. Beck das zweibändige Standardwerk "Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers" veröffentlicht.

Karl Robert Mandelkow

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