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Kultur: Der lange Atem

über den Reformstau und das Leiden mit Niveau Eigentlich ist ein solcher Witz, wegen der historischen Hygiene, momentan nicht angesagt. „Die Berliner Regierung schickt eine Delegation nach Delphi, um das Orakel zu befragen.

über den

Reformstau und das Leiden mit Niveau

Eigentlich ist ein solcher Witz, wegen der historischen Hygiene, momentan nicht angesagt. „Die Berliner Regierung schickt eine Delegation nach Delphi, um das Orakel zu befragen. Erste Frage: Wird unser Volk richtig geführt? Antwort: Noch nie wurde ein Volk so angeführt. Zweite Frage: Sitzt unsere Regierung fest im Sattel? Antwort: Noch nie hat eine Regierung so festgesessen. Dritte Frage: Werden wir siegen? Antwort: Ihr müsst dran glauben!“ Sie merken es, der Witz stammt aus dem letzten Weltkrieg. Also lässt sich im Grunde mit dem Regime, über das hier gewitzelt wird, eine demokratisch gewählte Regierung nicht vergleichen. Die Schuldenfalle ist nicht der Kessel von Stalingrad, Rot-Grün regiert nicht in der Reichskanzlei. Trotzdem passen irgendwelche Assoziationen immer. Geisteswissenschaften funktionieren nun mal – das walte Professor Baring, das walte Reichskanzler Brüning – assoziativ. Auch Medien funktionieren assoziativ. Und wie die Medien funktionierten bereits die antiken Orakel. Das von Delphi, ein Medium namens Pythia, ist seit dem Ödipus-Desaster bekannt für nebulöse Antworten. Das Beruhigende an einem nebulösen Orakel ist die Wie-mans-macht-ists-falsch-Gewissheit. Was hätte Ödipus denn tun sollen, um seiner Tragödie (Vater töten, Mutter schwängern) zu entgehen? Zur Abwendung der Prophezeiung ist er den Göttern erst recht in die Schicksalsfalle gelaufen. Merke: Wer vor den ihm zugeteilten Schmerzen wegläuft, macht alles schlimmer. Achtung! Moralkeule!

Eigentlich sollte das keine Glosse übers Bildungsbürgerniveau werden, sondern über „Leiden auf hohem Niveau“. Aber so ist das mit Assoziationen, mit Orakeln und mit Weh-Wehchen: Man drückt sich drum herum, schreibt was anderes und „auf einmal steht es neben dir“ (Tucholsky). Unsere deutschen Schmerzen, so sagen manche Kommentatoren, seien zwar irgendwie Schmerzen, da es uns bald ans Leder gehe. Doch wo wir auf zwei CD-Käufe im Monat verzichten müssen oder den Job verlieren, gibt es anderswo in Europa Leute, die für das Überleben ihr Familienporzellan verkaufen, und in anderen Weltwinkeln haben die Leute kein Trinkwasser. Sind unsere Schmerzen deshalb unecht? Das Seltsame an Schmerzen ist ja, dass sie subjektiv und unvergleichbar sind. Wenn der eigene Zahnschmerz schlimm genug ist, berührt uns eine Amputation am Nachbarn nicht mehr. Tut es den Deutschen nicht weh genug? Werden sie, sobald es wirklich weh tut, auf die Straße gehen?

Das Vertrackte an der deutschen Krankheit ist der Grad der kollektiven Infektion. Wer zur Zeit Wut darüber spüren möchte, dass die da oben das System des Über-unsere-Verhältnisse-Lebens noch immer nicht umbauen, weiß gut, dass er selber davon profitiert hat. Das Vertrackte ist die Schwierigkeit der kollektiven Therapie. Jedem Bürger steht es frei, sich privat auf die Couch zu begeben und seine deutsche Krankheit der Verantwortungslosigkeit, Lethargie und Wehleidigkeit zu therapieren: In die Politik zu gehen und an der Basis daran zu arbeiten, dass Lobbyismus die Zukunftsgestaltung irgendwann nicht mehr blockiert. Oder sich für eine soziale Initiative zu engagieren, die das zerrissene Netz des Generationenvertrages ersetzt. Oder ein Museum zu fördern, das sonst schließen würde. Oder ein paar demografische Hoffnungsträger in die Welt zu setzen. Es wird allerdings dauern, bis sich das verändert, was man „die Gesellschaft“ nennt. Es wird länger dauern als ein saisonaler Diskurs oder eine Legislaturperiode, länger als ein Arbeitsleben. Länger, als wir – nach der Kündigung des Generationenvertrages – zu denken gewohnt sind, also über den Tag hinaus. Sie müssen dran glauben.

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