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Kultur: Der Lyriker - "Sie werden lachen: Ich denke gern an die Zukunft zurück"

Einst hat er den Deutschen der damals noch jungen, pubertierenden Bundesrepublik das erste "Museum der modernen Poesie" eingerichtet. Der phänomenal belesene HME war noch keine 35, als er uns Brecht- und Benn-hungrigen Pennälern, denen Anfang der 60er Jahre in den Lesebüchern Carossa und Weinheber als lyrische Zeitgenossen gepriesen wurden, als er uns in seinem anthologischen "Museum" fast 100 Poeten mit ausgewählten Gedichten vorstellte.

Einst hat er den Deutschen der damals noch jungen, pubertierenden Bundesrepublik das erste "Museum der modernen Poesie" eingerichtet. Der phänomenal belesene HME war noch keine 35, als er uns Brecht- und Benn-hungrigen Pennälern, denen Anfang der 60er Jahre in den Lesebüchern Carossa und Weinheber als lyrische Zeitgenossen gepriesen wurden, als er uns in seinem anthologischen "Museum" fast 100 Poeten mit ausgewählten Gedichten vorstellte. Plötzlich gab es da im Jahrhundert von Trakl, Heym und Auden, von T.S. Eliot und Lasker-Schüler, von Benn, Brecht, Breton und Pound nie gehörte Namen: Chlebnikow, Nazim Hikmet, Kafavis, Miroslav KrleÃza, Eugenio Montale, William Carlos Williams. Und jetzt wohnt Hans Magnus Enzensberger lange schon selbst in einem eigenen Flügel dieses Museums der modernen Poesie.

1957 hat er dort erstmals an die Pforten geklopft. Gleich sein Debütband, die "Verteidigung der Wölfe", läßt auf dem Weg zum eigenen Ton sehr selbstbewusst auch fremde Töne anklingen. Da antwortet Enzensberger auf die Philosophie des Absurden, auf Albert Camus, in seiner "Anweisung an Sisyphos" mit Brechtschem Lehr-Pathos: "Es herrscht ein Mangel an Männern, / das Aussichtslose tuend stumm, / ausraufend wie Gras die Hoffnung, / ihr Gelächter, die Zukunft, rollend, / rollend ihren Zorn auf die Berge." Das Anfangsgedicht des Bandes aber ist schon eine leicht kokette Warnung; es heißt doppelsinnig "Lock Lied" und beginnt "Meine Weisheit ist eine Binse / Schneide dich in den Finger damit / um ein rotes Ideogramm zu pinseln / auf meine Schulter". Einen "Um zu"-Vers wird er sich später, souveräner, gewiss nicht mehr leisten. Aber schon das Titelgedicht zeigt seine dialektische Raffinesse, lässt künftige Ironien ahnen: "Verteidigung der Wölfe" - gegen die Lämmer. Das sind, tief in der höchsten Adenauerzeit, natürlich auch die passiv Lammfrommen, die an dem, was ihnen die Mächtigen oder Böseren zufügen, als schweigende Mehrheit mitschuldig werden: "Es gibt / viel Bestohlene, wenig Diebe . . . " Und "Soll der Geier Vergißmeinnicht fressen?", soll der Schakal sich häuten vom Wolf und dieser "sich selber ziehen die Zähne?"

Auch in den alsbald aufgeheizteren Jahren, in denen Enzensberger gerne die politischen Leviten liest, ist seine Lyrik, obwohl er auch über das Emphatik-Stakkato eines Meyerhold verfügt, immer zu melodisch stilbewusst, zu musikalisch liedhaft und zugleich intellektuell kontrolliert, als dass der poeta doctus, der über Brentano promovierte, je grob oder agitatorisch dichten könnte. Es gibt beim Lyriker, mehr als beim Essayisten, gleich den Selbstzweifel, die Skepsis. Gegenüber der pastoralen, romantischen Idylle setzt er, der auch wunderbare Naturbilder erfinden kann, schon sehr früh den Kontrapunkt: Dem alten lyrischen Ich, das von Ziegenhirten, Ballerinen und Korbmachern singen möchte, ruft er zu: "Bete zu den kybernetischen Göttern, erwirb / Raketen, Börsenblätter . . . " Auch dies schon 1957; und selbst die zeitgeistigen Gegen-Sätze wirken durch den Kursiv-Druck als bewusste Pose, wie Spiegel in Spiegeln reflektiert. Über den galligen Vorwitz der sechziger Jahre hinweg gelangt Enzensberger bald zur ironisch erleichterten Schwermütigkeit. 1980 in den "Furien des Verschwindens" schildert er seinem Arzt die Heilung von einer launischen Geliebten, nach der er einst verrückt war. Nun hat sie ihn verlassen, das entlastet die Nerven, es wird "auch ohne sie gehen". Und doch, seit sie fort ist, "ehrlich gesagt, Herr Doktor, / seitdem fehlt mir was. / Sie werden lachen: / Ich denke gern an die Zukunft zurück." In der Zukunft der Gegenwart ist HME dann im jüngst erschienen Band "Leichter als Luft" gelandet. Im letzten Stück flickt eine namenlose Frau Tag und Nacht "immer neue Laufmaschen, neue Löcher". Der Schluss lautet: "Wie klein sie geworden ist, / klein, blind, runzelig! / Mit ihrem Fingerhut tastet sie / nach den Löchern der Welt / und flickt und flickt." Enzensberger nennt das Gedicht: "Die große Göttin".Hans Magnus Enzensberger: Gedichte. 6 Bände aus den Jahren 1957-1995 als Geburtstagskassette. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. st 3047, 650 S. , 60 DM. - H.M. Enzensberger: Leichter als Luft. Moralische Gedichte. Suhrkamp Verlag 1999. 131 S. , 32 DM.

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