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Kultur: Der Mann, der aus der Zukunft kam

Ende des Sinns: zum Tod des französischen Universaldenkers und Simulationstheoretikers Jean Baudrillard

Von Gregor Dotzauer

Auf dem Innenumschlag seiner ersten Merve-Bändchen prangte Ende der siebziger Jahre ein Zitat von Christian Descamps: „Man muss Baudrillard wie Science-Fiction lesen.“ In der Tat klangen schon die Titel seiner Essays fremd. Jean Baudrillard verkündete „Die Agonie des Realen“ oder den Zusammenhang zwischen „Politik und Simulation“ und zelebrierte ein „Requiem für die Medien“: All das passte nicht zur Alltagserfahrung einer Gesellschaft, die noch an Aufklärung, demokratische Teilhabe und fortschreitende Liberalisierung glaubte.

Es bedurfte erst eines Bewusstseins von der schleichenden Entmaterialisierung und Virtualisierung aller Lebensverhältnisse, um in Baudrillards Diagnosen mehr zu sehen als düstere Visionen. Und dennoch blieb er ein Denker, der Gefühlen und Ahnungen eher einen Ausdruck verlieh, als dass er ihnen analytisch zu Leibe gerückt wäre. Sein Schreiben war oft spekulativ, blumig, rhapsodisch – und zugleich von einem apodiktischen Ton beseelt. „Georges Bataille, Roland Barthes, Walter Benjamin, Charles Baudelaire“, erklärte er, „das ist das Koordinatensystem, in dem ich mich wohlfühle. Oder Artaud, Nietzsche, Hölderlin.“

Seine entscheidende These hat er in unzähligen Abwandlungen vorgetragen: „Die Macht ist nur noch deshalb da, um zu verbergen, dass sie nicht mehr da ist.“ Oder: „Die Macht inszeniert ihren eigenen Tod, um wieder einen Schimmer von Existenz oder Legitimität zu bekommen.“ Die Begriffe, in denen er dachte, sind bis heute populär. Sie lauten Simulation und Dissimulation – Vorspiegelung und Verschleierung – sowie insbesondere Implosion. Mit dem Verschwinden jeder politischen Substanz sah Baudrillard außerdem eine „Implosion des Sozialen“ am Werk. Es war dies auch ein Problem der politischen Klasse, die sich ihres Gegenübers – des gleichgültigen Volks – in Meinungsumfragen und Studien wieder und wieder zu versichern suchte, um an der eigenen Restidentität festzuhalten.

Wohin Baudrillard den Blick auch wandte: Er sah fest aufeinander eingespielte Referenzsysteme kollabieren. Sie hatten den Höhepunkt ihrer Wirkmächtigkeit überschritten, waren dem Untergang geweiht, existierten nur noch als Simulakra – also Trugbilder – und lebten in blinder Selbstorganisation vor sich hin.

Jean Baudrillard, Jahrgang 1929, stammte aus Reims. Auf dem Gymnasium hatte er Deutsch gelernt, später sogar unterrichtet. Aus dieser Zeit stammen seine Übersetzungen einiger Brecht-Gedichte und der frühen Stücke von Peter Weiss. Seine prägenden Jahre aber erlebte er in Paris. Im Widerstand gegen den Algerienkrieg hatte er sich früh politisiert und 1966 in Nanterre – jener Universität, von der zwei Jahre später die Studentenrevolte ausging – eine Stelle als Soziologe angetreten. Dabei fühlte er sich der Soziologie akademisch nie verbunden. Ebenso wenig war er ein Philosoph. Er verstand sich vielmehr als Universaltheoretiker, der sich von der Ethnologie bis zur Kommunikationswissenschaft Bruchstücke zusammenklaubte und zu einem pessimistischen Ganzen verschmolz.

Geprägt von der Zeichentheorie des kommunistischen Strukturalisten Louis Althusser, verfiel er in den siebziger Jahren einem nachrevolutionären Katzenjammer und machte sich daran, alle irgendwie noch kritischen poststrukturalistischen Großtheorien seiner Zeit zu überwinden. Ob Michel Foucaults Machtanalysen in „Sexualität und Wahrheit“, die psychoanalytisch inspirierte Kapitalismuskritik im „Anti-Ödipus“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari oder der lange Abschied von den „großen Erzählungen“ der Ideengeschichte, die Jean-François Lyotard durch libidinöse Energien ersetzen wollte: Er sprach ihnen schlicht ab, etwas Wirkliches zu beschreiben. „Es bleibt dabei“, heißt es in „Foucault vergessen“, „dass alles auf Macht hinausläuft – ohne dass dieser Begriff jemals reduziert oder ausgemerzt worden wäre – genauso wie bei Deleuze alles auf Wunsch hinausläuft, oder bei Lyotard auf Intensität, alles geplatzte, aber in ihrem gängigen Sinn wie durch ein Wunder unversehrt gebliebene Begriffe.“ Er hielt es für sinnlos, das revolutionäre Subjekt neu zu definieren. So zeichnete sich seine Haltung durch eine unendliche geschichtsphilosophische Melancholie aus, deren Trauer sich in keinerlei Wut mehr verwandeln ließ.

Baudrillard war ein Denker des „Posthistoire“ und damit ein Erbe von Antoine Cournot und Arnold Gehlen. Lutz Niethammer erklärt in seinem gleichnamigen Standardwerk: „Die Problemstellung der Posthistoire-Diagnose ist nicht das Ende von Welt, sondern das Ende von Sinn.“

Mit einer moralischen Unbedenklichkeit, die sich nur dadurch rechtfertigen lässt, dass sich Baudrillard in einem „état final“ wähnte, machte er sich trotzdem daran, der „Hyperrealität“ einen Sinn abzugewinnen – beziehungsweise ihn zu verwischen. In Bezug auf den Terrorismus der siebziger Jahre fragte er: „Ist ein Bombenattentat in Italien die Tat von Linksextremisten oder eine Provokation der extremen Rechten, ist es eine Inszenierung des Zentrums, um alle terroristischen Extremisten in Misskredit zu bringen oder eine wacklige Macht herunterzumachen, oder handelt es sich vielleicht um ein Polizei-Szenario und eine Erpressung zur öffentlichen Sicherheit? All dies ist gleichzeitig wahr, und die Suche nach dem Beweis, ja der ,Objektivität’ der Fakten, setzt diesem Interpretationstaumel kein Ende.“ Das ist, mit Verlaub, Gefasel.

Baudrillards Grundwiderspruch war stets, dass er sich, gerade als Zeitungskommentator, mit seinen Aussagen auf eine wie auch immer geartete Wirklichkeit beziehen musste, um eben diese zu leugnen – auch wenn er sich dabei als ein Gefangener von Sprachspielen betrachtete (und widerwillig einen ganzen Rucksack linken Vokabulars mit sich herumschleppte). Die wachsende Entfernung von Zeichensystemen und den Dingen, an die sie geknüpft sind, schien ihm kein Schrecken zu sein, sondern ein Bedürfnis. Nicht zufällig fand er in den künstlichen Paradiesen der Vereinigten Staaten seinen Garten Eden.

Sein Hauptwerk „Der symbolische Tausch und der Tod“ (1976) ist auch eine groß angelegte Untersuchung über die Ausgrenzung des Todes in der westlichen Kultur. Nun ist Jean Baudrillard im Alter von 77 Jahren nach langer Krankheit in Paris gestorben.

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